Corononomics – Die Welt neu denken

01.06.2020 09:00 von Ingo Nöhr

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Nach den langen Wochen der Quarantäne gewinnt das öffentliche Leben wieder an Fahrt. Obwohl die Deutschen in den letzten Wochen das Fahrrad entdeckt haben, stürzen sie sich zu Pfingsten mit alter Begeisterung in die Verkehrsstaus. Erstmals nach zwei Monaten treffen sich Ingo Nöhr und sein Kumpel Jupp wieder zu ihrem beliebten Stammtischgespräch in der Eckkneipe. Ihr Wirt hat die Krise überlebt, indem er erfolgreich auf Außerhaus-Lieferungen umgestellt hat.

Hallo, mein lieber Freund Ingo, was für eine Freude, dich mal wieder live und nicht nur am Bildschirm zu erleben. Aber kann es sein, dass du gewichtsmäßig etwas zugelegt hast?

  • Jupp, alter Kumpel, die Freude ist auch ganz meinerseits. Ja, du hast richtig beobachtet, die Corona-Diät hat bei mir zugeschlagen. Ich hatte ja keine Gelegenheit, die Kalorien wieder abzulaufen. Aber dafür trägst du deine Haare länger. Noch keinen Termin beim Friseur bekommen?

Doch Ingo, in drei Wochen. Zuerst muss die darbende weibliche Kundschaft versorgt werden. Aber so richtig ist das normale Leben noch nicht zurückgekehrt. Oder soll das etwa den neuen Lebensstandard darstellen, den Angela Merkel im April verkündet hat? "Wir bewegen uns in eine neue Normalität - eine Normalität, die nicht kurz sein wird, sondern die längere Zeit anhalten wird", so sagte ihr Vizekanzler Olaf Scholz. Davor wurde Deutschland in einen künstlichen Schlaf versetzt, bis der Kuss des Prinzen das Dornröschen wieder aus dem Schlaf erweckt. Das ist die Theorie des Lockdowns. Aber was, wenn der Prinz auf sich warten lässt, die lebenserhaltenden Maßnahmen immer teurer werden und immer länger andauern und der Kuss nicht sofort wirkt?

  • Also Jupp, vorher sollten wir doch mal einen kurzen Blick auf die alte Normalität werfen, die vor Corona existiert hat. War da unsere Welt noch normal oder war unser Dornröschen nicht schon in einem bedrohlichen Multi-Krisenzustand? Unaufhaltsame Klimakatastrophe, zunehmende Umweltzerstörungen, ausufernde Welthandelskriege, Extremismus aller Orten, dazu durchgeknallte Potentaten in etlichen Regierungen. Verlotterte Schulen, Straßen und Brücken in Deutschland, das Gesundheitssystem mit gravierenden Engpässen im medizinischen und pflegerischen Bereich. Aber – und das war unserer Regierung wichtig und unantastbar: die Schwarze Null im Bundeshaushalt.

Ja, vielleicht ist das der Grund dafür, dass unsere Regierung in Verkörperung des Prinzen plötzlich tausende Milliarden Euros hervorzaubert, um die Wirtschaft zu retten. Nicht nur die höchstbezahlten Manager und verwöhnten Aktionäre der Lufthansa und der Automobilindustrie warten jetzt auf den Geldsegen. Die Banken halten sich da aufgrund ihres schlechten Images noch etwas im Hintergrund, aber alle sind ja systemrelevant.

  • Die Definition der Systemrelevanz sollte kritisch hinterfragt werden, Jupp. Schließlich hat man die Relevanz der Kitas, Kindergärten, Schulen, Pflegeheime und generell der Mütter anfangs schlicht übersehen. Da fehlte schlicht die lautstarke Lobby im Politikgeschäft. Ich glaube, diese Versäumnisse werden in den nächsten Jahren noch beachtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Mag sein, Ingo, aber immerhin hat man die Solo-Selbständigen und kleinen Unternehmer noch schnell und unbürokratisch mit Nothilfegeld versorgt. Etliche Kriminelle allerdings gleich mit - ist ja auch nachvollziehbar. Den Einbrechern ist komplett die Geschäftsgrundlage weggebrochen, seit die gesamte Bevölkerung in den Wohnungen bleiben musste. Ich erinnere mich vage, dass du schon vor Jahren mal das Helikoptergeld vorgestellt hast. Jetzt will Donald Trump damit seine Wiederwahl retten, natürlich mit seiner persönlichen Unterschrift auf den Schecks.

  • Jupp, das mit dem Helikoptergeld war im April 2016. Die Idee ist schon jahrzehntealt. Der Nobelpreisträger Milton Friedman hat die Idee entwickelt, einfach viel Geld mit dem Hubschrauber über die Bevölkerung abzuwerfen, um die Konjunktur anzukurbeln. EZB-Chef Mario Draghi hatte 2012 die Branche in helle Aufregung versetzt, als er dieses Konzept als ein interessantes Konzept beurteilte. 

Neue Konzepte für unsere Wirtschaftspolitik benötigen wir dringend. Hättest du das gedacht, dass wir als Exportweltmeister plötzlich unsere Mundschutzmasken selbst nähen müssen, Operateure mit umgebauten Tauchermasken arbeiten und Tausende Hobbybastler Gesichtsschilde produzieren und Beatmungsgeräte entwickeln? Und so nebenbei zum Schutz unserer Wirtschaft fast sämtliche Grundrechte außer Kraft setzen?

  • Kein Wunder, Jupp. Die gängigen Wirtschaftsmodelle basieren auf dem wertblinden Konzept des endlosen Wachstums an Absatz, Gewinn und Besitz, koste was es wolle.  Zugrunde liegt der Homo oeconomicus als eine egoistische Kreatur, der es nur um den eigenen Vorteil geht und die dadurch auf wundersame Weise für alle Wohlstand schafft. Geiz ist geil heißt seine Devise. Wenn der Mensch sich entscheiden muss, dann wird er als Konsument immer das wählen, was ihm den größten Nutzen bringt, und als Produzent für das entscheiden, was ihm den höchsten Gewinn verspricht. Wir sind schließlich alle Humankapital und müssen jeder darauf achten, unseren Marktwert zu steigern.

Die Corona-Krise hat aber brutal die Schwachstellen unserer Gesellschaft und Politik offengelegt. In der EU war jeder sich selbst der Nächste. Deutschland sprach ein Exportverbot für Schutzausrüstungen aus und die Italiener mussten China um Hilfslieferungen anbetteln. Die Konzepte von Globalisierung und Neoliberalismus zeigten jetzt ihre hässlichen Gesichter. Wir durften schmerzlich erkennen, dass das ökonomische Denken in Lebensbereiche eingewandert ist, die ursprünglich nichts mit Wirtschaft zu tun hatten: Fürsorge für andere Menschen, kranke, alte und Kinder sowie die Ausbildung. Ein System, das Egoismus belohnt, erzieht zum Egoismus. Wir brauchen eine Neubetrachtung der Werte, die Menschen in ihrer kooperativen Lebendigkeit stützen.

  • Der Makroökonom Daniel Stelter beschreibt in seinem neuen Buch Coronomics die wirtschaftlichen Auswirkungen der gerade exorbitant steigenden Staatsverschuldungen auf die globale Wirtschaft: „Die ökonomischen Folgen des Corona-Schocks sind gravierend und sie werden andauern. Vor allem werden sie eine neue Ära der Wirtschaftspolitik einläuten.“ Coronomics wird das Jahrzehnt prägen und zu einem ganz anderen Umfeld führen, als wir es kennen. Er sieht kein Zurück zur alten Ordnung, sondern rät uns, die Krise zu nutzen, um endlich die Fehler der Vergangenheit hinter uns zu lassen und mehr für die Zukunft zu tun, sei es mehr Investitionen zu tätigen, sich von der Globalisierung zu verabschieden, die Exportweltmeisterrolle zu überdenken und wirklich effektive Reformen für Staat und Gesellschaft durchzuführen.

Glaubst du an die Wende, Ingo? Ich erinnere mich noch gut an die Aufregung,  als 1972 vom Club of Rome die Studie zu den Grenzen des Wachstums vorgestellt wurde. Seit 50 Jahren sind also alle relevanten Klimafaktoren bekannt, aber immer noch leben wir in einer Scheinrealität und folgen den monetären Indikatoren, anstatt die physikalischen und biologischen Naturgesetze zu beachten. Das Klimarahmenabkommen 1992 und das Kyoto-Protokoll von 1997 haben unsere Aufmerksamkeit wenigstens auf den Ökologischen Fußabdruck gerichtet.

  • Nicht zu vergessen, Jupp: 1987 erschien der Brundtland-Bericht der UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung. Er hat das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung definiert: „eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“

Also an Mahnungen und Aktionen hat es wahrlich nicht gefehlt. Aber haben sie wirklich etwas Nachhaltiges bewirkt? Der Earth-Overshoot Day am 29. Juli 2019, an dem wir alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht haben, die die Erde innerhalb eines Jahres regenerieren und nachhaltig zur Verfügung stellen kann, verlagerte sich in den letzten zwanzig Jahren um zwei Monate nach vorne. In Deutschland waren wir schon am 3. Mai soweit und die USA meldeten die Jahresressourcen bereits am 15. März als aufgebraucht. In den restlichen Tagen danach leben wir auf Kredit bei der Natur, den wir aber nicht zurückzahlen wollen. Zukünftige Generationen haben bei uns kein Geld, keine Macht und keine Stimme, denn wir leben in einer Gegenwartsgesellschaft gemäß dem Motto „nach uns die Sintflut“. So werden wir in der Geschichtsschreibung der Evolution wohl als das kurzzeitige Auftreten räuberischer Parasiten mit Selbstvernichtungstrieb eingehen, wenn wir nicht radikal umdenken und umgehend unseren Kindern und Enkeln ein Mitsprache- und Gestaltungsrecht einräumen. Sind wir ein entarteter Ausrutscher eines Affenabkömmlings?

  • Ein Ausrutscher - wie konnte das aber passieren, Jupp? Schließlich hat die Natur ein dynamisches System von hoher Vielfalt und Flexibilität bereitgestellt, welches über Milliarden von Jahren alle Ressourcen dauerhaft in einen Kreislauf einbindet. Ein hocheffizientes und sich selbststeuerndes System: der Abfall des einen ist die Nahrung des anderen. Nichts ist überflüssig und wird weggeworfen. Der moderne Mensch hat dagegen  mit seiner Technologie in den letzten Jahrzehnten diesen nachhaltigen Kreislauf in ein Einbahn-Förderband umgewandelt. Vorne wird abgebaut, dann verbraucht, und hinten entsteht Müll, der für niemanden Nahrung ist. Müll, der verbrannt, verbuddelt oder aufgetürmt wird oder eben im Meer und den Flüssen schwimmt, die Luft verpestet und den Boden verseucht. Eine maximal produktive Maschinerie mag keine Vielfalt und blockiert alle Einflüsse der Umwelt.

Benötigen wir denn noch eine maximal produktive Maschine, Ingo? Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Easterlin hat Mitte der Siebzigerjahre die Wirtschaftsdaten von 19 verschiedenen Ländern aus einem Zeitraum von 25 Jahren verglichen. Er setzte sie in Beziehung zur Lebenszufriedenheit der Einwohner und stellte fest, dass ab einem gewissen durchschnittlichen Einkommen pro Kopf die Zufriedenheit der Menschen nicht mehr anstieg, wenn sich das Einkommen weiter erhöhte. Offenbar gab es einen Punkt, an dem noch mehr Wohlstand nicht automatisch zu mehr Lebensqualität führte. Seit Corona sind die Menschen mit weniger ausgekommen: weniger Konsum, weniger Autofahren, weniger Reisen.

  • „Zu viele Leute geben Geld aus, das sie nicht haben, um Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, um damit Leute zu beeindrucken, die sie nicht mögen.“ formulierte mal der Humorist Robert Quillen. An diesem Punkt setzt auch die Politökonomin Maja Göpel mit ihrem Buch Unsere Welt neu denken an. Darin beschreibt sie eine nachdenkliche Erfahrung:Ich werde nie vergessen, wie wir im Sommer 2019 bei den Vereinten Nationen in New York über die fehlenden 39 Milliarden diskutiert haben, die jährlich für die Bereitstellung von primärer Bildung für alle Kinder fehlen. Gleichzeitig verkündete 250 Meter weiter das Bankhaus J. P. Morgan, dass es innerhalb weniger Monate 40 Milliarden Euro an seine Aktionäre ausschütten werde – weil es kaum mehr wisse, wohin mit seinen Finanzmitteln. ​“

Jamie Gamble, ein ehemaliger Anwalt der größten Unternehmen der Welt hat das Dilemma so zusammengefasst: „Durch die radikale Orientierung am Aktienwert seien die Manager und Leiter der Börsenfirmen rechtlich dazu verdonnert, sich wie Soziopathen zu verhalten. Das Verhältnis zu Angestellten und Kunden, zu den Regionen, in denen sie produzieren und in die sie verkaufen, sowie die Effekte ihrer Praktiken auf Umwelt und zukünftige Generationen fänden da alle keinen wirklichen Platz.​“​ Ingo, da liegt doch der Hund begraben: Umweltschutz rechnet sich nicht für die Aktionäre.

  • Warum nicht, Jupp? Die Rechnung ist schlichtweg nicht vollständig. In einer Metastudie von Robert Costanza aus dem Jahr 2014 wurde die Wertschöpfung der Natur geschätzt: Bis 2007 erbot die Natur dem Menschen 125 bis 145 Billionen Dollar pro Jahr an Dienstleistungen – gewaltig, verglichen mit dem gesamten Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Welt von etwa 55 Billionen Dollar. Der Schaden durch die jährliche Zerstörung der Ökosystemdienstleistungen lag bis 2007 bei etwa 4,3 bis 20,1 Billionen Dollar.

Ingo, das erinnert mich gerade an eine Schätzung des Bundesamtes für Naturschutz. Die Bestäubung der Pflanzen durch Insekten lässt sich als eine Dienstleistung der Natur am Menschen verstehen. Umgerechnet in Geld, beträgt der Wert dieser Dienstleistung etwa 150 Milliarden Euro pro Jahr.

  • Für die Buchautorin Maja Göpel ist daher in der Zeit der Corona-Krise der Moment gekommen, über Konsumwahnsinn, gewonnene Zeit, mehr Nachhaltigkeit und eine zukunftsfähige Wirtschaft nachzudenken: „Es gilt neu zu verhandeln, was den Wohlstand der Menschen übermorgen ausmacht. Dafür brauchen wir neue Begriffe und Konzepte, die ausdrücken, was wir künftig wichtig finden. Planetenzerstörung darf nicht mehr Wachstum heißen. Reine Geldvermehrung nicht länger Wertschöpfung.“  Und dafür sitzt sie als Transformationsforscherin und Generalsekretärin im wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung im Bereich Globale Umweltveränderungen genau an einer richtigen Stelle.

Ingo, wir sitzen endlich auch wieder an unserer richtigen Stelle – dank unseres cleveren Wirtes, der die Wirren der Corona-Zeit wirtschaftlich überlebt hat. Lass uns auf die neue Zeit anstoßen.

  • Gut gesprochen Jupp. Lieber Herr Wirt, bitte in alter Tradition zwei Bier. Ein Prost auf die neue Wirtschaftswelt.

 

In unserem Verhältnis zur Natur zeigt sich die ganze Anmaßung menschlichen Wirtschaftens. Indem der Mensch die natürlichen Systeme seinem Bedarf unterwirft, reduziert er ihre Vielfalt, macht sie verletzlicher und braucht einen immer größeren Aufwand, um sie zu stabilisieren. Menschliche Systeme sind nicht nachhaltig und müssen notgedrungen zusammenbrechen, wenn wir nicht lernen, sie umzubauen.
(Maja Göpel, Transformationsforscherin. Zitat aus „Unsere Welt neu denken: Eine Einladung“)

Wenn eine Gesellschaft nicht mit der Erschöpfung ihrer Ressourcen umgehen kann, drehen sich die wirklich interessanten Fragen um die Gesellschaft und nicht um die Ressource. Welche strukturellen, politischen, ideologischen oder wirtschaftlichen Faktoren in der Gesellschaft verhinderten eine angemessene Reaktion?
(Joseph Tainter, Anthropologe)

Die Welt ist mit drei existentiellen Krisen konfrontiert: die Klimakrise, die Ungleichheitskrise und eine Krise der Demokratie. Und dennoch geben uns die etablierten Wege, wie wir ökonomischen Fortschritt messen, nicht den leisesten Hinweis darauf, dass wir ein Problem haben könnten.
(Joseph Stiglitz, Ökonom)

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