Der moderne Hahnemann

01.07.2013 09:00 von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
Vielen Dank MEDI-LEARN.de!

„Ingo, ich brauche Deine Verstärkung im Kampf gegen die Scharlatane. Komm mal schnell vorbei!“

Diesem dringenden Notruf von Jupp auf meiner Handy-Mailbox konnte ich nur widerstrebend Folge leisten, da ich selbst gerade ein Gerät der Bioresonanztherapie zerlegte, um dem Geheimnis der sechsdimensionalen Hyperwellen auf die Spur zu kommen.  Dabei durfte ich auf keinem Fall den Elektronen-Plasma-Strömen in die Quere zu kommen, da sie bei einer falschen Handhabung die Umpolung meiner pathologischen Körperschwingungen in ein harmonisches Gesundheitsfeld hinfällig machen. Vielleicht hätte ich mir doch besser den Medea 7 Orgonstrahler vorgenommen, der ohne Akku und Netzkabel auskommt.

Aber jetzt brauchte Jupp meine Hilfe. Hatte er wieder Streit mit einem seiner Ansicht nach unfähigen Ärzte angefangen? Umgehend setzte ich mich in Trab und traf ihn in der Küche vor einem Haufen Schachteln an, der sich als eine ansehnliche Sammlung von homöopathischen Tinkturen und Globuli entpuppte. „Mein Enkel hat eine eitrige Mittelohrentzündung und schreit den ganzen Tag. Und meine Schwägerin haut mir ständig diesen Artikel um die Ohren.“

Der besagte Bericht war ein Jubelartikel in einer Fernsehzeitschrift, der mit der Überschrift „Homöopathie wirkt! – aber wir wissen nicht, wie…“ auf zwei Seiten einen der führenden Hersteller Deutschlands von Schüßler-Salzen und homöopathischen Mitteln vorstellt. Nachfolgend erklärt dann ein Homöopathie-Experte, wie man durch die Globuli 30 Kilo in drei Monaten abnehmen kann.

Fotos zeigen ein „hochtechnisiertes Werk“, welches „computergesteuert und nach höchsten Standards“ 420.000 verschiedene Arzneien herstellt. Im letzten Jahr wurden 27 Millionen Packungen verkauft. Und das mit nur 500 „motivierten“ Mitarbeitern.

Daneben zeigt ein weiteres Foto eine hübsche Blondine in Schutzkleidung, die ein kleines Röhrchen in der Hand hält: „Überraschendes Bild: In der hochmodernen Produktion wird jede homöopathische Substanz noch immer per Hand potenziert, das heißt verdünnt und verschüttelt – streng nach dem 200 Jahre alten Regelwerk von Dr. Samuel Hahnemann.“

Jupp schaut mich mit bittenden Augen an. „Das ist doch auch nur ein supermoderner Pharmabetrieb. Warum vertraut meine Schwägerin nicht den Antibiotika?“

„Ja, Jupp, ganz einfach: unsere Antibiotika werden nicht handverschüttelt. Warum wohl nicht? Laß uns mal nachrechnen: 500 motivierte Mitarbeiter schütteln und verdünnen acht Stunden am Tag, und das 250 Tage im Jahr, dies ergibt eine Arbeitsressource von 1 Million Schüttelstunden im Jahr bzw. 60 Millionen Minuten. Da bleibt für jede Packung gerade mal 2 Minuten an Zeit für die Produktion.“

„Viel weniger, denn du musst die Verwaltung und Hilfsdienste abrechnen, die anderen Schritte vor und nach der Pillenherstellung, und so weiter.“ - „Richtig, aber das ändert letztendlich nichts am Ergebnis. Irgendwie beißt sich diese Produktionsmethode mit den Regeln vom alten Hahnemann. Schauen wir mal in das Organon der Heilkunst, sein Standardwerk der Homöopathie. Die Paragraphen 269 und 270 beschreiben dort die Regeln.“

§ 269 … Diese merkwürdige Veränderung in den Eigenschaften der Natur-Körper, durch mechanische Einwirkung auf ihre kleinsten Theile, durch Reiben und Schütteln (während sie mittels Zwischentritts einer indifferenten Substanz, trockner oder flüssiger Art, von einander getrennt sind) entwickelt die latenten, vorher unmerklich, wie schlafend in ihnen verborgen gewesenen, dynamischen (§. 11.) Kräfte, welche vorzugsweise auf das Lebensprinzip, auf das Befinden des thierischen Lebens Einfluß haben. Man nennt daher diese Bearbeitung derselben Dynamisiren, Potenziren (Arzneikraft-Entwickelung) und die Produkte davon, Dynamisationen oder Potenzen in verschiednen Graden.

„Also, die schlafenden Heilkräfte müssen durch Reiben, Schütteln und Verdünnen geweckt und mobilisiert werden. Hierzu gibt Hahnemann im nächsten Paragraphen hierzu präzise Anweisungen:“

§ 270 Um nun diese Kraft-Entwickelung am besten zu bewirken, wird ein kleiner Theil der zu dynamisirenden Substanz, etwa Ein Gran, zuerst durch dreistündiges Reiben mit dreimal 100 Gran Milchzucker auf die unten angegebne Weise zur millionfachen Pulver-Verdünnung gebracht. Aus Gründen die weiter unten in der Anmerkung (6) angegeben sind, wird zuerst Ein Gran dieses Pulvers in 500 Tropfen eines, aus Einem Theile Branntwein und vier Theilen destillirtem Wasser bestehenden Gemisches aufgelöst und hievon ein einziger Tropfen in ein Fläschchen gethan.

Hiezu fügt man 100 Tropfen guten Weingeist und giebt dann dem, mit seinem Stöpsel zugepfropften Fläschgen, 100 starke Schüttelstöße mit der Hand gegen einen harten, aber elastischen Körper geführt. Dies ist die Arznei im ersten Dynamisations-Grade, womit man feine Zucker-Streukügelchen erst wohl befeuchtet dann schnell auf Fließpapier ausbreitet, trocknet und in einem zugepfropften Gläschen aufbewahrt, mit dem Zeichen des ersten (I) Potenzgrades.

Hievon wird nur ein einziges Kügelchen zur weitern Dynamisirung genommen, in ein zweites, neues Fläschgen gethan (mit Einem Tropfen Wasser, um es aufzulösen) und dann mit 100 Tropfen guten Weingeistes auf gleiche Weise, mittels 100 starker Schüttel-Stöße dynamisirt. Mit dieser geistigen Arznei-Flüssigkeit werden wiederum Streukügelchen benetzt, schnell auf Fließpapier ausgebreitet, getrocknet, in einem verstopften Glase vor Hitze und Tageslicht verwahrt und mit dem Zeichen des zweiten Potenz-Grades (II.) versehen. Und so fährt man fort, bis durch gleiche Behandlung Ein aufgelöstes Kügelchen XXIX mit 100 Tropfen Weingeist, mittels 100 Schüttel-Stößen, eine geistige Arznei-Flüssigkeit gebildet hat, wodurch damit befeuchtete und getrocknete Streukügelchen den Dynamisations-Grad XXX erhalten.

„Da siehst du es! Die dreißigmaligen Verdünnungen von jeweils 1:100 benötigen schon 3.000 starke Schüttelstöße. Das vorherige dreistündige Reiben nicht vergessen! Das schafft man nicht in zwei Minuten per Hand, würde ich sagen.“

Jupps Augen leuchteten: „Super, das ist einfach eine simple Rechnung. Da kann etwas nicht stimmen. Das wird meine Schwägerin auch erkennen müssen. Ingo, Du hast mal wieder einen wertvollen Beitrag im Kampf gegen die Scharlatanerie geleistet.“

Ganz und gar nicht im Sinne der homöopathischen Industrie dürfte das nachfolgende Verbot von Hahnemann sein:

§ 273 In keinem Falle von Heilung ist es nöthig und deßhalb allein schon unzulässig, mehr als eine einzige, einfache Arzneisubstanz auf einmal beim Kranken anzuwenden. Es ist nicht einzusehen, wie es nur dem mindesten Zweifel unterworfen sein könne, ob es naturgemäßer und vernünftiger sei, nur einen einzelnen, einfachen wohl gekannten Arzneistoff auf einmal in einer Krankheit zu verordnen, oder ein Gemisch von mehreren, verschiednen. In der einzig wahren und einfachen, der einzig naturgemäßen Heilkunst, in der Homöopathie, ist es durchaus unerlaubt, dem Kranken zwei verschiedne Arzneisubstanzen auf einmal einzugeben.

Abhängig von den jeweiligen Symptomen ist von einem Homöopathen bei einer Mittelohrentzündung aus vierzig verschiedenen Mitteln das passende auszuwählen. Aber sicherlich wird man beim vorgestellten Hersteller unter den 420.000 Arzneien die exakt wirkende Medizin finden können. Hoffentlich wurde diese auch lange genug geschüttelt….

Was ich Jupp einfach nicht verraten konnte: in meiner Verwandtschaft wirken Globuli wunderbar. Immer wieder und bei allen möglichen Zipperlein. Auch, nachdem ich die Inhalte von drei Packungen gegeneinander vertauscht hatte. Wie bei der Akupunktur: sie funktioniert, - egal wo man einsticht.

Ja, so ist das eben: „Homöopathie wirkt! – aber wir wissen nicht, wie …“ Nur der preisgünstige Vollrausch mit einem hochpotenzierten Whisky will sich bei mir nicht einstellen.

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