Der Schwarze Schwan – das neue Wappen der Weltwirtschaft

01.05.2020 09:00 von Ingo Nöhr

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Den beiden Rentnern Ingo und Jupp ist in ihrer Isolation deutlich bewusst geworden, dass die Covid-19 Pandemie mindestens ebenso wuchtig und nachhaltig den Verlauf der Weltgeschichte ändern wird wie der Fall der Mauer oder die Terrorattacken am 11. September 2001. In etlichen Ländern werden jetzt die Kontaktbeschränkungen gelockert, Donald Trump verkündet schon lauthals das Ende der Pandemie, hat aber vorsichtshalber noch schnell 100.000 Leichensäcke bestellt. Nachvollziehbar, denn ein Drittel der infizierten Weltbevölkerung wurde mittlerweile in den USA registriert. Zukunftsbewusst sinnieren die beiden Krankenhausprofis per Videoleitung gemeinsam über die Frage, wie denn die Zeit nach Corona aussehen könnte.

Lieber Ingo, zu Neujahr 2016 hast du dir vorgenommen, immer das Körnchen Gute im Schlechten zu finden. Im Monat darauf hast du mir vom Nassim Talebs Truthahn, seinem tollen Leben und dem traurigen Ende erzählt. Wo findest du denn heute das Staubkörnchen Gutes im Ozean des Schlechten?

  • Mein lieber Freund Jupp. Darf ich dich mal an etwas erinnern? Exakt vor drei Jahren bist du selbst zu folgender Erkenntnis gekommen, ich zitiere wörtlich: „Während ich ständig jammere, dass alles schlechter wird und dabei kein Ende absehe, wartest du auf den kommenden Katastrophenpunkt, wo der Kessel platzt und die Systeme wieder neu geordnet werden müssen. Sozusagen ein neues Fukushima in der Geschichte. Oder noch besser: der Phönix kommt wieder.“

Ja, ich erinnere mich. Das bedeutet, du erwartest jetzt den Zusammenbruch der Zivilisation und dann kommt der Phönix aus der Asche hervorgekrochen? So wie die Große Depression, die im Jahre 1929 Millionen ins Elend stürzte und in Deutschland den Nazis an die Macht half. Ist das so, Ingo?

  • Nein, ich erwarte nicht den Kollaps der Zivilisation, aber ein gründliches Nachdenken über den Zustand unserer heutigen Zivilisation. Was die drohende Klimakatastrophe in diesem Ausmaß nicht vermocht hat, erreichte nun dieser Winzling von einem Virus. Frank Snowdon, Professur für Medizingeschichte berichtet, dass schon früher viele Weltreiche durch Pandemien untergegangen sind.

Wie bitte? Du meinst, so eine Weltmacht wie die USA könnte einfach durch einen Virus untergehen? Klar, 30% Arbeitslosigkeit, Erdölpreise kollabiert, US-Wirtschaft zusammengebrochen. Aber nach der Pandemie wird doch wohl wieder alles nachgeholt werden. Der Konsum und die Produktion sind doch nur aufgeschoben, oder liege ich da falsch, Ingo?  

  • Ja und nein, Jupp. Professor Snowdon zählt etliche Beispiele auf: das antike Griechenland durch die Attische Seuche, das Römische Reich durch Malaria, die Herrschaft des House of Stuart wurde von den Pocken beendet, Napoleons Armee wurde in Russland von Fleckfieber und Ruhr vernichtet.

Nur unser Tausendjähriges Reich scheiterte nicht an einer biologischen Krankheit, sondern an einer psychischen Infektion durch rassistische Hirngespinste und Größenwahnvorstellungen, mit einem Adolf Hitler als Phönix.

  • Vermutlich werden die Karten der Macht wieder neu gemischt: USA wird von einem völlig ungebremsten und unbelehrbaren Präsidenten geleitet, der in seinem Umfeld sämtliche kompetenten Minister und Berater gefeuert hat. China dagegen hat die Pandemie genutzt, um seine Bevölkerung einem perfekten Big Brother System der Überwachung zu unterwerfen. Russland ist mit sich selbst beschäftigt und erwartet erst noch den großen Peak. Und Europa – ein einziges Trauerspiel der Kleinstaaterei. Von gemeinsamem Handeln keine Spur. Gemeinsame Ziele: eher wenige. Ein Beobachter hat es treffend ausgedrückt: In Europa hält man den Ausblick vom eigenen Kirchturm gerade wieder für ein weltweites Panorama.

Wir haben mit der Globalisierung ja auch ein irrwitziges System aufgebaut, wie es der Schweizer Journalist Frank André Meyer eindrücklich beschreibt: „Die Baumwolle wird in den USA gewonnen, der Faden in der Türkei gesponnen, die Farbe in China hinzugefügt, das T-Shirt in Bangladesh gewoben, das Produkt auf dem Kudamm in Berlin verkauft.“ Und das alles auch noch zu einem lächerlichen Preis.

  • Und das soll immer so weiter gehen, Jupp? Nein, unsere Welt ist schlagartig eine andere geworden und die Frage ist doch, wie soll es nach der Pandemie denn weitergehen?

Also Ingo, dafür braucht es doch keine große Fantasie. Wir werden eine Weltwirtschaftskrise mit unglaublich vielen Arbeitslosen bekommen und in Afrika und Asien werden sich Millionenheere von Hungernden zu den Fleischtöpfen des Westens aufmachen. Die Rechtsradikalen und regierenden Populisten werden aufblühen und ihre Länder wieder einmauern.

  • Da möchte ich dir in einigen Punkten widersprechen, Jupp. Nach dem Einbruch des Welthandels werden wir die Wirtschaftswelt wiederaufbauen und die Abhängigkeit von globalen Märkten durch heimische Produktionen ersetzen müssen. Bei den drohenden Hungersnöten gebe ich dir recht, aber diese ließen sich durch eine effektivere Verteilung der Nahrungsmittel und gerechtere Handelsbeziehungen vermeiden. Die AfD und ihre Glaubensbrüder in den Regierungen in Ungarn, Polen, und sonstwo haben durch Inkompetenz und Verbohrtheit das Vertrauen bei ihrer Bevölkerung verspielt. Staatsführer wie Johnson in UK, Erdogan in der Türkei, Bolsonaro in Brasilien und Trump in den USA haben durch ihre Ignoranz unsägliches Leid in ihren Ländern verursacht. Das Elend lässt sich nicht mehr durch Propaganda und eigene Fake-News verstecken.

Okay Ingo, du glaubst also, es gibt nun ein Umdenken bei den Menschen. Diese Hilflosigkeit, die Existenzängste und die drastische Isolation werden demnach eine positive Wirkung auslösen? Die Religionsführer haben jedenfalls noch keinen fühlbaren Zulauf. Yuval Noah Harari hat ja eine interessante Beobachtung gemacht: „Die katholische Kirche weist die Gläubigen an, sich von den Kirchen fernzuhalten. Israel hat seine Synagogen geschlossen. Die Islamische Republik Iran bestraft Menschen, die ihre Moscheen aufsuchen. Tempel und Sekten aller Art haben ihre öffentlichen Zeremonien ausgesetzt. Und das alles, weil Wissenschaftler ihre Berechnungen angestellt und empfohlen haben, diese heiligen Stätten zu schließen.“

  • Harari berichtet aber auch, dass der Pastor, der Trumps Kabinett einmal die Woche Bibelunterricht gibt, glaubt, dass diese Epidemie eine göttliche Strafe für Homosexualität ist. Beinahe hätte Trump seine Gläubigen ausgerottet, als er laut nachgedacht hat, ob man Desinfektionsmittel nicht gegen Coronavirus trinken oder sich sogar direkt spritzen könnte.

Eigentlich doch hilfreich, Ingo, dass wir so einen Zampano haben, der permanent in der Weltpresse neuen Blödsinn verkündet. Da können die vertrauenswürdigen Autoritäten dann anschließend vielbeachtet mit Fakten in aller Öffentlichkeit dagegenhalten. Aber es ist doch extrem beunruhigend, dass ein solcher Führer der größten Militärmacht der Erde jederzeit auf den roten Knopf drücken kann. Wird er denn mit seinem Verhalten das Umdenken beschleunigen können?

  • Ich weiß es nicht, Jupp. Aber auch dieser geniale Staatsmann musste gerade lernen, dass seine Militärmacht schutzlos einem unsichtbaren Erreger ausgeliefert ist, als sich 1000 Crew-Mitglieder seines Flugzeugträgers USS Theodore Roosevelt mit Corona infiziert haben. Nein, ich glaube, das Umdenken wird bei den Politikern nach der Schockstarre erst langsam einsetzen. Die Varianten des Coronavirus werden uns bestimmt noch mehrere Jahre begleiten und die Todeszahl wird bald die Million überschreiten, vor allem wenn noch die zweite Covid-19 Welle dazukommt. Die Menschen werden den wichtigen Unterschied zwischen Fake News und wissenschaftlichen Fakten lernen. Das weltweite Wirtschaftsgefüge wird sogar noch länger benötigen, um sich neu zu sortieren.

Da helfen die Billionen an Euros und Dollars auch nicht unbedingt, denn letztendlich müssen die Steuerzahler dafür bezahlen. Für viele kommen die Hilfen auch zu spät. Firmen- und Staatsbankrotte, Revolten und Revolutionen werden die Folge sein.

  • Ich glaube, dass ein psychologischer Faktor zu berücksichtigen ist. Viele Menschen sind in ihrer erzwungenen Isolation zum Nachdenken über die gegenwärtige Situation gekommen. Ich darf wieder meinen Professor Snowdon zitieren: „Ich denke, dass es unseren Glauben an die Globalisierung infrage stellt. Wir merken jetzt, wie verletzlich wir uns dadurch gemacht haben; da entstehen jetzt existenzielle Ängste. Wobei die Globalisierung uns ja nicht von Gott aufgebürdet worden ist, wir selbst haben sie erschaffen. Durch den Mythos des ungebremsten Wirtschaftswachstums, fast acht Milliarden Menschen, durch weltweites Reisen, Megacitys, Umweltverschmutzung und das weitgehende Zurückdrängen der Natur haben wir ideale Entstehungs- und Ausbreitungsbedingungen für das Coronavirus geschaffen und dafür gesorgt, dass es uns besonders schlimm treffen kann.“

Ich sehe aber noch nicht, Ingo, dass die Planung einer neuen, besseren Zukunft begonnen hätte. Die Programme der Regierungen zielen auf eine rasche Rückkehr in die Prä-Corona-Zeit, so als seien die Covid-19 Schäden mit viel Geld reparierbar. Als wäre nichts gewesen.

  • Das mag sein, Jupp. Aber vergiss nicht die einfachen Menschen, die tagtäglich mit den Begleiterscheinungen der Krise wie Angst, Einsamkeit, Depression und Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Unsere abgehobene Politikerkaste wird mit diesen Erfahrungen nur selten konfrontiert. Das Versagen des Home-Schooling haben viele Familien am eigenen Leib erfahren. Es hat „die Schwächen unseres antiquierten Bildungssystems offenlegt“, wie der SPIEGEL in seiner vorletzten Titelstory schreibt, und führt zu einem zunehmend lauter werdenden Nachdenken über eine grundlegende Reform der Bildungsinhalte und Vermittlungsmethoden.

Ich möchte noch ergänzen, Ingo. Das wiederholte Chaos bei Experten und Behörden hat die Menschen zutiefst verunsichert: die sich widersprechenden Virologen; Masken erst nein, dann doch; Kontaktbeschränkungen - hier schärfer als nebenan im Nachbarland; staatliche Corona-Apps – erst eine, zwei, jetzt sind sogar drei im Gespräch; Tracer App kommt vor Ostern, jetzt erst im Juni, aber ganz anders als zunächst geplant; und so weiter. Planvolles Regieren und professionelle Krisenkommunikation sieht anders aus. Aber fairerweise muss ich zugestehen, dass viele unserer Politiker doch rasch und flexibel auf die neuen Herausforderungen reagiert haben. Sie haben in kurzer Zeit Grundrechte ausgesetzt und etliche heilige Kühe geschlachtet, nimm nur mal die Schwarze Null.

  • Aber ich sehe auch positive Anzeichen in der Natur: sie erholt sich vom wüsten Treiben des Menschengeschlechts. Die riesigen Smogglocken über den Industriegebieten und Bevölkerungszentren sind fast verschwunden, die CO2-Emissionen verzeichnen einen Rekordrückgang, die Flüsse werden wieder durchsichtig und Delphine entdecken die Häfen und Kanäle, weil die Schiffe nicht fahren und das Wasser verschmutzen. Neugierige Rehe und Wildschweine trauen sich in die Innenstädte. Und viele Familien entdecken die Ruhe und Besinnlichkeit bei einem gemeinsamen Waldspaziergang wieder.

Ich kann mir auch vorstellen, Ingo, dass durch die erzwungene Einrichtung eines Home-Office viele Beschäftigte, vor allem die Pendler und letztendlich die Arbeitgeber neu über die Verteilung der Aufgaben, Bürokosten und bislang verschobene Digitalisierung nachdenken werden. Die Regierung diskutiert schon über ein eigenes Gesetz, welches dem Arbeitnehmer ein Recht auf einen Home-Office Platz einräumen soll. Möglicherweise werden bald etliche Bürotürme überflüssig und leer herumstehen.

  • Aber Jupp, eines dürfen wir doch gewiss sein. Ein Home-Office unseres beliebten Wirtes kann ich mir nicht vorstellen. Hoffentlich wird unsere Stammkneipe in Zukunft noch lange eine Insel der Ruhe und Besinnlichkeit bleiben, so wie sie es vor dem Corona-Ausbruch war. Dann können wir unser gemeinsames Bier endlich wieder an einem Tisch und nicht vor der Webkamera trinken.

Gut gesprochen Ingo. Ein Prost auf den Aufbruch in das Post-Corona-Zeitalter. Und eine Gedenkminute für unseren einsamen Wirt.

 

„Krisen sind Phasen beschleunigten Wandels. Ereignisse verdichten sich so stark, dass man eine Abfolge von Entscheidungen treffen muss, die man sonst gut durchdenken und vielleicht in einem Jahr treffen würde.“

Jan-Otmar Hesse, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Co-Autor des Buches „Die Grosse Depression“

 

Wir wollen uns einen Truthahn vorstellen, der jeden Tag gefüttert wird. Jede einzelne Fütterung wird die Überzeugung des Vogels stärken, dass es die Grundregel des Lebens ist, jeden Tag von freundlichen Mitgliedern der menschlichen Rasse gefüttert zu werden, die „dabei nur sein Wohl im Auge haben“, wie ein Politiker sagen würde. Am Nachmittag des Mittwochs vor dem Erntedankfest wird dem Truthahn dann etwas Unerwartetes widerfahren, und er wird seine Überzeugung revidieren müssen.

(Nassim Nicholas Taleb, Zitat aus seinem Buch „Der Schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“)

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