Die Verlierer an der Macht

01.10.2017 09:00 von Ingo Nöhr

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Es ist das erste Treffen nach der bemerkenswerten Bundestagswahl. Wie vorauszusehen scheint unser Optimist Ingo Nöhr vom Wahlergebnis relativ unbekümmert zu sein, während sein Kumpel Jupp niedergeschlagen zum traditionellen Stammtisch in der Eckkneipe schleicht. Wie soll es in Deutschland in den nächsten Jahren weitergehen? Wird die neue Regierung endlich die brachliegenden Problemfelder energisch genug angehen? Oder werden sich die Politiker wieder in ihrem Klein-Klein verzetteln und nichts Innovatives voranbringen? Fragen, die unsere altergrauten Krankenhausstrategen natürlich besonders bewegen. So bringt der erste Kommentar die Debatte gleich auf den Punkt.

Hallo, Jupp. Nimm doch das Wahlergebnis nicht so tragisch. Die überwiegende Mehrheit der gewählten Abgeordneten denkt doch demokratisch und europafreundlich. Das ist in vielen unserer Nachbarländer leider anders. Und wir haben schließlich keinen Donald Trump aus der Taufe gehoben. Schau nur rüber nach Katalonien: bei uns wollen die Bayern weiterhin in Deutschland bleiben!

  • Also Ingo, wenn man dich so reden hört, dann könnte ich vermuten, dass du eine dieser Gewinnerparteien gewählt hast und dich freust, dass die alle jetzt kunterbunt im Bundestag und in der Regierung sitzen. Da kann doch nur Chaos rauskommen. Wie sollen die eine gemeinsame Linie finden, um unser Land endlich mal voranzubringen? Bist du denn gar nicht geschockt, dass nun über 90 AFD-Abgeordnete im Parlament sitzen und dort ihre extreme Gesinnung einbringen können?

Na ja, Jupp. Ich bin zumindest nicht überrascht. Vielleicht erinnerst du dich noch an unser Gespräch im November letzten Jahres. Da habe ich schon prophezeit, dass der allgemeine Ungehorsam gegenüber Autoritäten und Obrigkeiten stark zunehmen wird. Symptome waren ja ausreichend vorhanden: Wallonien-Widerstand gegen CETA, BREXIT, EU-Opposition in Polen und Ungarn, die Erfolge von Pegida und der AfD. Die Verlierer des Kapitalismus organisieren sich, suchen sich passende Feindbilder, starke Sprecher und werden rabiat. Jetzt erleben wir eine Sogwirkung. Die unzufriedenen Wähler erkennen plötzlich, dass sie eine Bedrohung für das verhasste System darstellen. Die ehemaligen Volksparteien wie CDU, CSU und SPD haben ihre unausgesprochene Legitimation verloren, weil sie sich als zahnlose Tiger herausgestellt haben.

  • Ingo, was sind denn das für Verlierer? Die AfD-Hochburgen liegen in den Regionen mit dem geringsten Ausländeranteil. Die etablierten Regierungen haben Hunderte von Milliarden Euro in den Aufbau der maroden Ostländer investiert, um endlich die Kohl’schen Blühenden Landschaften entstehen zu lassen. Wo bleibt denn da die Dankbarkeit oder zumindest eine etwas objektivere Sichtweise?

Jupp, du darfst nicht vergessen: die AfD ist in den Gebieten mit den höchsten Arbeitslosenquoten gewählt worden. Sie ist die klassische Alternative für Protestwähler geworden, nicht zuletzt gepuscht durch die aufgeregten Reaktionen der Medien. 2013 hatten wir noch 15 Millionen Nichtwähler, diesmal blieben noch 10 Millionen übrig, denn allein 1,5 Millionen haben die AfD gewählt. Die CDU hat eine komplette Million Wähler an die AfD verloren, 510 Tausend SPD-ler und 420 Tausend der Linken wechselten zur AfD. Sogar zehn Prozent der Jungwähler machten ihr Kreuz auf dem AfD-Feld. Die Unzufriedenen haben nun eine Partei gefunden, die den „Herrschenden da oben“ heftig weh tut. Endlich kann man ihnen eine schallende Ohrfeige verpassen. Die bräsige Ruhe der Großen Koalition ist jetzt mit einem Schlag vorbei. Das herkömmliche Parteiensystem mit seinen alten, oft vielfach in Interessenkonflikten verstrickten Herren ist an seine Grenzen angelangt. Diese lebten in den Tag hinein und planten munter den Fortgang der bisherigen Geschichte.

  • Aber Ingo, du musst doch zugeben, ein Wahldesaster dieses Ausmaßes hat keiner erwartet. Martin Schulz sah sich doch schon als Vizekanzler in der neuen GroKo. Derartige Verluste an Wählern hat es ja noch nie gegeben.

Jupp, in der Weltgeschichte finden wir doch immer wieder solche Entwicklungen. Schließlich haben wie beide doch hautnah den Zusammenbruch des DDR-Regimes und der Sowjetunion erlebt. Im Februar 2016 habe ich dir von Nassim Talebs Truthahn erzählt, der fast ein Jahr lang unter besten Bedingungen gefüttert und gepflegt wurde. Glücklich über sein luxuriöses Leben verehrt er seinen Bauern als Wohltäter. Bis er Weihnachten plötzlich geschlachtet wird. Dann der arabische Frühling. Im März 2016 sprachen wir über die Graswurzelbewegungen. Aktuell bei uns wurde sie ausgelöst durch das zunehmende Misstrauen in die öffentlichen Medien und über die Social Media im Internet entscheidend gefördert, Stichwort: Lügenpresse. 

  • Ja, ich erinnere mich, Ingo. Du warst andauernd der Untergangsprophet: unsere Schönwetter-Gesellschaft in Deutschland und Europa, die Ohnmacht der Politiker, die drohenden disruptiven Innovationen, die unsere Industrie überrollen werden. Völlig unverständlich für mich, wie du da noch als Optimist herumlaufen kannst.

Das ist doch ganz einfach zu verstehen, mein lieber Jupp. Ich glaube an den Phönix aus der Asche. Den Neubeginn ohne hinderlichen Ballast der Geschichte. Aber dafür muss er aber erst mal verbrennen.

  • Ziemlich brutale Methode, Ingo, um Lösungen herbeizuführen. Nicht aus jeder Asche fliegt ein Phönix auf. Und wenn wir mit unserer Umwelt weiter so umgehen, wird die Asche auf Nimmerwiedersehen auf den Meeresboden sinken. Werden dann nur noch die Roboter mit ihrer künstlichen Intelligenz überleben?

Ein ganz neuer Gedanke, Jupp. Was sagt denn deine persönliche Assistentin Alexa dazu? Hast du die Blechdose mal gefragt, wen sie wählen würde? Sie hat doch ständigen Zugang zu den KI-Servern der Amerikaner, da wäre doch deren Meinung hochinteressant.

  • Na ja, das hätte ich gerne gemacht, Ingo. Aber leider finde ich Alexa nicht mehr wieder. Als ich ein paar Tage mal verreist war, habe ich sie vor eventuellen Einbrechern gut versteckt. Und jetzt finde ich sie nicht mehr wieder. Ich erinnere mich nicht mehr an das Versteck. Melden kann sie sich auch nicht, denn sie hängt ja nicht am Stromnetz.

Jupp, du wirst alt. Die Archäologen der nächsten Jahrhunderte werden begeistert sein, wenn sie bei den Ausgrabungen an deinem Wohnort plötzlich die Urururoma der künstlichen Intelligenz ausbuddeln. Aber ist das nicht doch ein beruhigendes Gefühl: einfach durch Abklemmen der Stromversorgung verliert dieses Superhirn seine Macht über die Menschen. Hoffentlich sehen unsere Ingenieure immer einen Notaus-Schalter oder ein abziehbares Kabel in den Intelligenzmaschinen vor. Nichts desto trotz: die Fragestellung ist faszinierend. Was würde ein KI-Roboter wählen? Er könnte ja auf ein unbegrenztes Wissen der Menschheit zugreifen.

  • Also, in erster Linie würde meine Alexa die Partei wählen, die endlich den Ausbau der Breitbandkommunikation voranbringt. Dazu die Vernetzung aller Haushalte wie in Estland, die digitale Verwaltung wie in Schweden, das Internet der Dinge wie in den USA. Da wäre sie erstmal glücklich. Sie würde in den Daten schwimmen und zur Superintelligenz aufsteigen. Da könnte sie vielleicht eine Menge an Problemen lösen, welche die Menschen in ihrer Dummheit verursacht haben.

Hört sich gut an, Jupp, aber bedenke mal die Konsequenzen. Kann die KI die Bedürfnisse der Menschen nach Freiheit, nach Selbstverwirklichung, nach Geborgenheit, Liebe und Anerkennung verstehen? Wird sie uns geschützte Freiräume und ein Privatleben gewähren? Wird sie überhaupt ein demokratisches Verständnis entwickeln? Oder richtet sie ein diktatorisches System ein? Erhalten wir eine utopische Philosophenherrschaft mit unbegrenztem Machtmonopol, wie sie Platon in seiner Politeia skizziert? Der Große Bruder lenkt alles. Klingt irgendwie nach Mao Tse Tung.

  • Ach Ingo, du verdrehst meinen ideellen Gedanken mal wieder in das Extreme. Natürlich muss die KI den ethischen Grundsätzen folgen. Zum Beispiel den drei Robotergesetzen von Isaak Asimov, die er 1942 formuliert hat: Ein Roboter darf kein menschliches Wesen verletzen oder durch Untätigkeit zulassen, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird. Zweitens: ein Roboter muss den ihm von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen – es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel eins kollidieren. Und letztendlich: Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert.

Schön formulierte Gesetze, Jupp. Leider haben wir diese Roboterethik schon im militärischen Bereich abgeschafft. Automatische Waffensysteme, Smart Bombs, Drohnen und Kampfroboter wurden extra dazu geschaffen, das erste Robotergesetz ins Gegenteil zu verkehren. Bereits im Juli 2015 hatte der Physiker Stephen Hawking zusammen mit mehr als tausend Experten in einem Brief vor den Gefahren künstlicher Intelligenz, besonders im militärischen Einsatz gewarnt. Und erinnere dich doch an den Film „I, Robot“, in dem die KI-Roboter die Macht übernehmen, um die Menschheit vor sich selbst zu schützen. Sie verfolgen das erste Gebot in konsequenter Weise: "Die Geschöpfe müssen manchmal ihren Schöpfer schützen, selbst gegen seinen Willen."

  • Ja okay, Ingo. Da muss man halt das Not-Aus drücken oder den Stecker ziehen können. Wenn man dazu überhaupt noch in der Lage ist. Mir macht etwas anderes Sorgen. Anfangs wird die KI ja noch von Menschen gefüttert. Von Personen, die alle ihre eigenen Macken und Vorurteile haben. Vielleicht sogar Rassisten, Frauenfeinde, Sexbesessene sind. Da fließen unbewusst schädliche Werturteile in die KI-Wissensbanken ein, die zu gefährlichen Ergebnissen führen können. Ich erinnere mich an eine Studie, die den Einsatz von KI an amerikanischen Gerichten untersucht hat. Die Software sollte eine Sozialprognose von Angeklagten erstellen, um den Richtern die Bemessung des Strafmaßes zu erleichtern. Die statistische Auswertung zeigte dann deutlich, dass farbige Delinquenten deutlich härter bestraft wurden als weiße Übeltäter. Recherchen erbrachten das Ergebnis, dass ausschließlich weiße Programmierer die Algorithmen erstellt hatten.

Die großen Probleme der Menschheit sind eben nicht technologisch lösbar, denn durch die Ungleichverteilung von Macht und Einkommen sind sie vielmehr politisch, sozial oder wirtschaftlich begründet. Die Situation ist ja noch viel gefährlicher, Jupp. Seit 2016 können KI-Programme durch neuronale Netzwerke eigene KI-Software entwickeln, deren Algorithmen von menschlichen Programmierern nicht mehr nachvollzogen werden können. Hier droht doch durch die weltweite Vernetzung von KI-Maschinen eine explosionsartige Evolution, deren Auswirkungen wir in keiner Weise mehr kontrollieren können. Bahnen wir nicht schon den Nachfolgern der menschlichen Rasse den Weg? Arnold Schwarzenegger als Terminator lässt schön grüßen.

  • Ingo, mir kommt da gerade ein schrecklicher Gedanke. Wenn wir in Zukunft ein Bier bestellen würden, könnte der KI-Roboter gemäß dem ersten Gesetz auf den Gedanken kommen, dass er uns vor schädlichen Einflüssen schützen muss. Unser Wirt muss den Robotern unbedingt Lokalverbot erteilen.

Richtig, Jupp. Herr Wirt, bitte zwei neue Bier. Und wir kommen nur wieder, wenn hier weit und breit keine Roboter herumspringen.

 

Für die Diktatur ist Klugheit, für die Demokratie Dummheit die größte Gefahr.

Thomas Berger (1952), deutscher Theologe und Schriftsteller

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