Masters of Disasters

01.08.2013 09:00 von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
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Beim letzten Treffen in unserer Eckkneipe zum regelmäßigen Erfahrungs- oder besser gesagt Frustrationsaustausch war Jupp wieder stimmungsmäßig aufgeladen. „Stell’ dir vor, Ingo. Gestern erhielt ich einen Anruf aus unserem Klinikum. Ich bin zwar pensioniert, aber für Notfälle habe ich eine Geheimnummer hinterlegt.“

„Das ist aber sehr edel von dir. Und wie oft bist du schon angerufen worden?“ fragte ich zwischen zwei Bissen meines exzellenten Rindersteaks.

„Noch kein einziges Mal. Der neue Leiter will mir beweisen, dass er alles im Griff hat. Aber jetzt hatte er Pech. Er ist gerade auf einer Fortbildung und sein Vertreter war nicht erreichbar.“

„Da sollte man das Klinikum vielleicht solange schließen“ wagte ich eine unpassende Bemerkung.

„Wahrscheinlich muß man das bald. Bei dem Personal dort. Ich meine das medizintechnische Personal.“ – „Warum das denn? Du hattest doch gute Leute, alle bestens unter deiner Fuchtel ausgebildet.“

Jupp nahm ob meines Kompliments einen tiefen Schluck aus dem Bierglas, um den letzten Satz noch etwas länger wirken zu lassen. „Mein Nachfolger hat neue Ingenieure eingestellt, nachdem er meine besten Techniker und Meister durch seine Arroganz vergrault hat.“

„Und da hat sich dann gestern jemand bei dir beschwert?“ warf ich ein, um den Anschluß an seinen Eröffnungssatz wieder hinzubekommen.

„Nein. Jemand rief von einer Pflegestation an, und ich gebe den Dialog wörtlich wieder: ,Der EKG-Monitor ist kaputt.’– ,Was heißt kaputt? Wie äußert sich das?’ – ,Na, er geht nicht mehr!’ Es stellte sich letztendlich heraus, dass vorher runtergefallen ist.“

Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust und Jupp brauchte zum Trost wieder einen großen Schluck Bier. - „Na, das ist doch die übliche Ausdrucksweise, was regst du dich denn auf? Pfleger und Schwestern haben halt andere Schwerpunkte als die Technik.“

„Es war keine Schwester und kein Pfleger. Wer mich angerufen hat, ..“ Jupp machte eine bedeutungsvolle Pause. Ich kürzte sie ungeduldig ab mit: „… ein Arzt.“ – „Nein, es war auch kein Arzt. Es war .. es war ein Medizin-Ingenieur. Aus meiner alten Abteilung. Aber keiner von meinen Leuten. Einer der neuen.“

Au, das war peinlich. Kein Techniker aus Jupps Abteilung hätte jemals eine solche Ansage gewagt. Vielmehr hätte er die Symptome des Ausfalls klar beschrieben, mögliche Ursachen genannt und einen Vorschlag zur weiteren Verfahrensweise gemacht. „Kommt mir nicht mit einer Frage ohne euren Lösungsvorschlag!“ war Jupps knallharte Devise. Wer sich nicht daran hielt, fand sich Sekundenbruchteile später draußen vor Jupps Büro­tür wieder.

Ein Ingenieur war von Berufswegen definitiv auf die Erkennung von Problemursachen und deren Beseitigung getrimmt. Mir kam ein erster Verdacht: „Etwa so ein neumodischer Bachelor-Ingenieur?“ – „Nein, noch schlimmer: ein Master of Science Ingenieur für Biomedizinische Technik.“

Ich kramte zusammen, was ich vom Bologna-Prozess noch wußte. Dort hatte man sich 1999 geeinigt, ein europaweit einheitliches System an den Fachhochschulen und Universitäten einzuführen. Es gab seitdem keine Diplom-Ingenieurabschlüsse mehr, sondern nur noch Bachelor- und Master-Titel, unabhängig von einem FH- oder Uni-Studium. Dies sollte die internationale Vergleichbarkeit sicherstellen. Wegen der Verkürzung der Studiendauer wird es auch als Turbo-Studium bezeichnet. Gerade eben hatte unsere Bildungsministerin und die Konferenz der Kultusminister die deut­sche Sonderlösung des Bologna- Modells als großen Erfolg gefeiert.

„Was ist daran so schlimm, Jupp? Diese Ingenieure haben eine intensivere und strengere Studienzeit als wir überstanden und sind nun besser abgehärtet gegenüber Belastungen jeglicher Art.“

„Unsinn. Die lernen nur noch für die Klausuren und Prüfungen auswendig, haben keine Zeit mehr, das Wissen zu verdauen und zu verknüpfen. Man nennt das Phäno­men mittlerweile Bulimie-Learning: Lernen nur um riesige Mengen von Lehrstoff in Prüfungssituationen wieder auskotzen zu können. Der nachhaltige Lerneffekt ist gleich Null. Persönlichkeiten können da erst recht nicht entstehen. Seit zehn Jahren geht das nun schon so.“

„Dafür sind sie nach drei Jahren schon Ingenieur. Ich habe fünf Jahre dafür gebraucht. Da hätte ich schon zwei Jahre vorher knackig Geld verdienen können.“

„Mit dem sechssemstrigen Bachelor kannst du in vielen Branchen kaum etwas anfangen, da muß schon der Master-Titel her, um in der Wirtschaft wenigstens ein bißchen Anerkennung zu bekommen. Innerhalb von drei Jahren kannst du unmöglich eine ,wissenschaftliche Grundausbildung und spezifische Berufsfähigkeit’ erreichen, wie es die Bologna-Väter ständig behaupten. Wenn die Studenten überhaupt solange durchhalten. Mehr als ein bis zwei Drittel der Anfänger fliegt schon in den ersten Semestern wieder raus.“

„Aber Jupp. Das kenne ich von meinem Studium damals auch. Mit 600 Studenten hatten wir angefangen, ab dem vierten Semester gab es nur noch 75 Praktikumsplätze, die doppelt belegt wurden. Der große Rest wurde gnadenlos rausgeprüft.“

„Es ist schlimmer geworden. Ein Bekannter, er ist Dozent an der FH, erzählte mir wahre Horrorstories über die Anfangsqualifikation der Studenten. Übrigens heißen die Studenten neuerdings Studierende und die Dozenten Lehrende. Wegen der Geschlechts­neutralität.“

„Wenigstens gibt es noch keinen Herr Professorin wie in Leipzig! Laß mich raten: Mathe und Physik sind die Probleme im ersten Jahr“ erinnerte ich mich an meine eigene Studienzeit, pardon - Studierendenzeit. 

„Richtig, im ersten Jahr wird der fehlende Abiturstoff in Mathe und Physik nach­geholt, danach kommt die Elektrotechnik. Was ist Stromstärke, was ist Spannung. Schließ­lich gibt es dann sogar Leute, die im Gymnasium Biologie abgewählt haben, aber jetzt ernsthaft Biomedizinische Technik studieren wollen. Denen muß man erstmal den mensch­­lichen Körper erklären, damit sie die Grundlagen der Medizin verstehen können.“

„Ich hoffe, dass sie wenigstens schon sexuell aufgeklärt worden sind. Die Nichtqualifizierten könnte man vorher durch einen einfachen Eignungstest herausfiltern und braucht sie garnicht erst aufnehmen.“ – „Geht nicht, denn dann kriegen die Hochschulen ihre Plätze nicht voll. Sie werden also jeden aufnehmen, der anklopft. Oder sich sonst durch ihre massive Werbung täuschen läßt. Je mehr umso besser. Schließlich gibt es in Deutschland mittlerweile über 250 Bildungseinrichtungen für Gesundheitsberufe, da ist die Konkurrenz groß und die Nachfrage wird bald immer kleiner.“

„Okay,“ wagte ich einen neuen Vorstoß. „Aber die Studiengänge werden doch vorher hinsichtlich ihrer Qualität von unabhängigen Experten zertifiziert. Da sollten doch am Ende gestandene Ingenieure zu erwarten sein.“

„Ingo, die Studiengänge werden akkreditiert und nicht zertifiziert, was ein qualitativer Unterschied ist, denn es soll, leider mit viel Bürokratie, auch die Kompetenz bewertet werden, einen solchen Studiengang einzurichten. Fast 90% aller Studiengänge sind mittlerweile in Deutschland auf Bologna umgestellt. Es gibt mittlerweile mehrere Tausend akkreditierte Studiengänge. Was schätzt du, wieviel im Verfahren bisher durchgefallen sind?“

Er wartete meine Schätzung gar nicht erst ab. „Kein einziger. KEINER. Und wenn du erstmalig akkreditiert worden bist, kommen die Gutachter erst nach fünf bis sieben Jahren wieder, um die Akkreditierung zu erneuern. Bis dahin kannst du ungestraft Heerscharen von unbrauchbaren Ingenieuren auf die Wirtschaft und die Kliniken loslassen.“

„Aber würde das nicht bei den Arbeitgebern nicht bösartig auffallen?“

„Das passiert leider noch nicht flächendeckend in der Praxis. Die deutschen Unternehmen waren ja anfangs begeistert: endlich bekamen sie stromlinienförmige Blitzstarter, ganz auf die Bedürfnisse der Wirtschaft getrimmt. Jetzt haben sie ihre Illusionen mehr und mehr verloren. Nur noch 63 Prozent der deutschen Unternehmen sehen ihre Erwartungen an die Absolventen erfüllt. Sie vermissen vor allem die Verknüpfung von Theorie und Praxis bei den Berufs­einsteigern.“

„Aber beim Wiederkommen ist der Akkreditierer doch schlauer, was die Berufstauglichkeit der Absolventen angeht und er kann der Uni oder FH den Hahn endgültig zudrehen.“

„Träum’ schön weiter! Erstens gibt es nicht nur einen, sondern viele Akkre­ditierer – strenge und weniger strenge. Zweitens gibt es staatliche Akkreditierer mit massiven Inte­ressenkonflikten. Und drittens, was würde denn passieren, wenn man eine Akkreditierung zurücknehmen wollte. Alle Studenten im laufenden Studiengang könnten keinen anerkannten Abschluß als Bachelor oder Master erreichen. Sie müßten mit diesem Makel an einer anderen Hochschule neu anfangen.“

„Aber die Masterabschlußarbeit entspricht doch wenigstens einer ordentlichen Diplomarbeit, oder?“

„Es hängt davon ab, ob du an einer Universität oder an einer ehemals so genannten Fachhochschule studierst. Bei den Unis findest du noch die historisch gewachsenen Erwartungen der Professoren an einen gestandenen Ingenieur. Aber schau dir mal die Abschlußarbeiten der meisten FHs an. Manche FHs haben ja dem Modetrend folgend einfach einen Medizintechnik-Studiengang auf bestehende Fachrichtungen wie Elektrotechnik draufgesattelt.“

„Ah, ich verstehe. Klassische Ingenieurausbildung plus etwas Ärztejargon, Anatomie, Physiologie und Pathologie im Schnelldurchgang.“

„Schön wär`s. Dann wären es wenigstens gestandene Ingenieure. Viele Bachelorabsolventen können gerade mal Arbeiten vom Niveau einer Seminararbeit vorlegen. Die Master setzen in zu vielen Fällen bereits vorgegebene Problemlösungen in eine Anwendung um, zum Beispiel durch eine einfache Softwareprogrammierung. Die Problem­analyse und Entwicklung einer Lösung ist längst an anderer Stelle, meistens durch den Betreuer, geschehen. Der FH-Abschluß ist aber dem Uni-Abschluß gleich­gestellt. Und die Diplom-Studiengänge wurden von den meisten Kultusministern ohne Not abgeschafft. Dabei werden wir im Ausland um unseren 114 Jahre alten Titel Diplom-Ingenieur und seine zugrundeliegende Qualifikation beneidet. Das ist doch in höchsten Maße dilettantisch. Masters of Disasters auf allen Ebenen.“

„Die Unfähigkeit, Mittelmäßigkeit zu erkennen und zu bekämpfen, ist nichts anderes als der Vorbote des Niedergangs.“ sagte einmal Hermann Simon, ein Betriebswirt und Hochschullehrer treffend auf einer Konferenz.

So sieht also zur Zeit unsere moderne Hochschulpolitik in Deutschland aus.  Wie gut, dass unsere Eckkneipe noch einen gestandenen Koch mit klassischer Ausbildung beschäftigt. Bei einem Bachelor Koch oder Master of Cuisine würde ich wohl kein Rindersteak bestellen wollen. Selbst bei einem akkreditierten nicht.

„Es ist schwer, mit zweitklassigen Zutaten etwas Gutes zu machen, aber ganz einfach, aus Erstklassigem etwas Miserables.“ (Charles Gundel)

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