Nach uns die Zukunft!

01.01.2020 09:00 von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
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Jetzt ist das Jahr 2019 schon wieder so schnell vergangen. Sogar ein neues Jahrzehnt bricht an, obwohl wir eigentlich noch ein Jahr darauf warten müssten. Aber diesen Fakt haben wir ja schon bei der Jahrtausendwende einfach ignoriert. Ingo und Jupp treffen sich wieder in ihrer Eckkneipe zu einer kritischen Nachbetrachtung. Aber diesmal gerät sie zu einer Rückschau der letzten zehn Jahre. Unglaublich, wie sich die Welt seitdem verändert hat. Und was erwartet uns im kommenden Jahrzehnt? Die Ansichten der beiden gehen da etwas auseinander …

Prost Neujahr, mein lieber Ingo. Wie geht es dir denn so bei der Rückschau auf das Jahr 2019? Bist du immer noch Optimist geblieben, wie du im Januar 2016 beschlossen hast?

  • Dir natürlich auch ein frohes neues Jahr, lieber Jupp. Mir geht es gut, da ich damals erkannt habe, dass man sich von den schlechten Nachrichten nicht herunterziehen lassen darf. Insofern hat die Lebensweisheit vom Clown Charlie Rivel recht gehabt: "Der Optimist hat nicht weniger oft unrecht als der Pessimist, aber er lebt froher." Ich habe seitdem viel Neues und Erfreuliches entdeckt und schaue der Zukunft frohgemut entgegen. Was bei dir augenscheinlich weiterhin nicht der Fall ist.

Das mag ja sein, Ingo. Da kann ich dir nur antworten: Ein Pessimist zu sein hat den Vorteil, dass man entweder ständig Recht behält oder angenehme Überraschungen erlebt. Du musst ja auch die Relationen sehen – das Jahr 2019 war für die meisten von uns ein Katastrophenjahr. Überall Verlierer: die Industrie mit den Skandalen von VW und Boeing; die Politiker nach den Wahlergebnissen von zehn Kommunal­wahlen, drei Landtagen und  des EU-Parlaments, den Untergang der Volksparteien vor Augen; die Gesellschaft durch die Hasskultur im Internet; die Weltwirtschaft durch den Handelskrieg zwischen USA und China; die Umwelt durch die brennenden Wälder in Kalifornien, Brasilien und Australien; alle Erdbewohner durch den ungebremsten Klimawandel … - also Ingo, ich könnte noch eine Stunde mit diesen Desastern fortfahren. Lässt dich das alles unberührt?

  • Nein Jupp, natürlich nicht. Aber ich lasse mir auch nicht den Blick verstellen auf die positiven Entwicklungen in der Welt. All deine Katastrophen haben ja auch positive Folgen gehabt: die Dieselaffäre hat eine heilsame Schockwelle in unserer Autoindustrie ausgelöst; die Aufsichtsbe­hörden wie FAA und KBA schauen nun 150% genau hin. Die Politiker haben den Radfahrer in den Städten entdeckt, um drohenden Fahrverboten zu entgehen. Die Parteien schauen endlich mal auf ihre Basis und werden die Jugend ernstnehmen müssen. Die Hasskultur hat nun strafrechtliche Folgen und löste eine Suche nach den tieferliegenden Ursachen aus. Trumps Wirtschaftskrieg hat ein lang unterdrücktes Nachdenken über die Globalisierung ausgelöst und wird hoffentlich weltweit die Abhängigkeit von der US-Politik verringern. Die Verantwortlichen sollten die Erkenntnis von Henry Ford annehmen: Ein Geschäft, das nur Geld bringt, ist ein schlechtes Geschäft.

So siehst du das also, Ingo. Selbst aus schlechten Aussichten kannst du also noch gute Einsichten gewinnen. Fakt ist: es passiert doch jeden Tag das gleiche Ritual. Nachrichtensprecher fangen stets mit 'Guten Abend' an und brauchen dann 15 Minuten, um zu erklären, dass es kein guter Abend ist.

  • Ja, Jupp, da handelt es sich um eine bewusste Auslese von Sensationsmeldungen des Tages. Sie beschädigen das positive Weltbild des Zuschauers massiv, weil er die negativen Trends einfach in die Zukunft extrapoliert. Schauen wir doch mal zurück auf das vergangene Jahrzehnt. Was haben wir da alles an überraschenden Innovationen in der Digitalwelt erlebt?  Sogar bei uns privat zu Hause. Wir sprechen mit Maschinen über Alexa, Google Assistent, Cortina und Kollegen. Roboter putzen im Smart Home den Fußboden oder mähen den Rasen. Mit VR-Brillen erleben wir exotische Welten oder operieren Patienten. Wir können Ersatzteile oder Skulpturen mit 3D-Druckern selbst herstellen. Die modernen Handykameras liefern dank eingebauter künstlicher Intelligenz hochprofessionelle Fotos und arbeiten nebenbei mit automatischer Gesichtserkennung. WhatsApp begann damals seinen weltweiten Siegeszug. Apple startete mit seiner ersten Smart Watch und war schon zweieinhalb Jahre nach der Markteinführung ein größerer Uhrenhersteller als die gesamte Schweizer Uhrenbranche.

Ja, ja, ich weiß, Ingo, die tollen Segnungen der digitalen Revolution. Dann erkläre mir aber bitte mal, wo du den Vorteil in den zunehmenden Hackerattacken siehst. Die vierte Generation des Emotet-Trojaners hat dieses Jahr neben tausenden von Computern auch die Universität Gießen, die Stadt Frankfurt, die Katholische Hochschule Freiburg, die Humboldt-Uni in Berlin, das Berliner Kammergericht, das Techni­sche Hilfswerk, das Kraftfahrtbundesamt und sogar die Heise Mediengruppe befallen.

  • Also Jupp, ich ordne diese Erfahrungen in die Rubrik „pädagogisch wertvoll“ ein. Wir haben ein Jahrzehnt der Schadsoftware hinter uns, denke nur den Stuxnet-Wurm und die Malware Mirai im Internet der Dinge. Die Hacker haben die Daten von Milliarden Nutzern bei Playstation, Sony und Yahoo erbeutet. Der deutsche Staat hat großes Interesse, dass die versteckten Zugänge weiterhin für die Installation des Bundestrojaners offen bleiben. Whistleblower Edward Snowdon beschreibt in seinem Buch Permanent Record, wie die US-Regierung weltweit jede SMS, Email und jeden Anruf überwacht. Nur aus Schaden wird man anscheinend klug und lernt aus seinen Fehlern. Manchmal dauert es halt länger.

Ingo, es sind nicht nur die Geheimdienste, die den Kriminellen die Türen öffnen. Schau dir beispielsweise unsere Gesundheitseinrichtungen an, etwa das Phänomen der Ransom-Software, welche immer mehr Kliniken in die analoge Steinzeit zurückbombt. Zudem finden sich im Darknet die E-Mail- und Passwort-Kombinationen von circa 9% der Arztpraxen und sogar von 60% der Kliniken. Trotzdem wiegen sich Ärzte beim Thema Cybergefahren in Sicherheit. Bei 1.200 untersuchten Arztpraxen wurde festgestellt, dass fast jeder zweite Mitarbeiter eine potenziell schadhafte Mail öffnete. 20% klickten sogar auf einen Link oder öffneten den Anhang. Vor kurzem wurden auf der 36. Konferenz des ChaosComputerClubs in Leipzig neue Schwachstellen der Telematik aufgedeckt. Den CCC-Sicherheitsforschern ist es gelungen, sich im Telematik-Netzwerk gültige Heilberufsausweise, Praxisausweise, Konnektorkarten und Gesund­heitskarten auf die Identitäten Dritter zu verschaffen. Damit konnten sie im Netz der 115.000 angeschlo­ssenen Praxen aufgrund grober Mängel in den Zugangsprozessen auf Telematik-Anwendungen und Gesundheitsdaten von Versicherten zugreifen. Da ist mir dein Verständnis vom pädagogisch wertvollen Lernen doch etwas zu brisant.

  • Ich meine damit, Jupp, dass wir uns grundlegende Gedanken über Datensicherheit und Datenschutz machen müssen. Milliarden Nutzer der Social Media und anderer Internetdienste geben permanent ihre persönlichen Vorlieben zur kommerziellen Verwendung frei. In China wird ein totales Überwa­chungssystem der gesamten Bevölkerung aufgebaut, welches dem Orwellschen Big Brother gleich­kommt. Diese Entwicklung findet schleichend statt und jeder glaubt, es trifft ja nur die Kriminellen oder zumindest die anderen. Ich erwarte hier auch eine Schockwelle, wenn mal wieder sensible Gesundheitsdaten in einer Darknet-Auktion verramscht werden und sich der normale Patient dort wiederfindet. Wir lernen zunehmend die bösartige Seite der Digitalisierung kennen und fürchten. Christoph Lichtenberg hat mal gesagt: Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll.

Da gebe ich dir vollkommen recht, Ingo. Es kann keine demokratisch legitimierten Wahlen mehr geben, wenn alle Wähler aufgrund ihrer Internetprofile gezielt manipuliert werden. Der Cambridge Analytica Skandal von Facebook war da nur die Spitze des Eisbergs. Vielleicht müssen wir damit leben lernen, dass wir künftig im Glaskasten sitzen. Aber mal Themenwechsel: was begründet denn deinen Optimismus bei der drohenden Klimakatastrophe? Wir werden unvorstellbare Flüchtlingsströme erleben.

  • Wenn wir so weiter machen und die Hände in den Schoß legen, richtig Jupp. Aber deswegen habe ich dir gerade die Fortschritte der letzten Jahre aufgezählt, die Liste ist bei weitem nicht vollständig. Was könnte in den nächsten zehn Jahren alles an hilfreichen Innovationen auf uns zukommen? Erneuerbare Energien ersetzen Kohlekraftwerke, elektrisch und wasserstoff-betriebene Fahrzeuge werden die Umweltverschmutzung erheblich reduzieren. Bei Boeing und Airbus werden seit Jahren Wasserstoff-Flugzeuge entwickelt. 2012 wurde bei einem Wettbewerb das Deep Learning geboren, heutzutage eine wesentliche Komponente der modernen künstlichen Intelligenz. Ein Quanten­computer hat gerade den schnellsten Supercomputer der Welt überflügelt. Rasante Fortschritte in den Roboter-, Gen-, Nano- und Biotechnologien werden unsere Medizin umkrempeln. Die Regierungen werden überrannt werden von den technologischen Fortschritten, weil ihre Wähler darauf anspringen und nicht warten wollen, bis gesetzliche Regelungen erarbeitet worden sind. Zukunft ist etwas, das meistens schon da ist, bevor wir damit rechnen.

Also Ingo, ich muss dir da wohl zustimmen. Zukunft ist etwas, das die meisten Menschen erst lieben, wenn es Vergangenheit geworden ist. Wir wissen noch überhaupt nicht, was in dem nächsten Jahrzehnt auf uns zukommt. Wer hätte 2010 sich vorstellen können, dass mal ein Donald Trump Präsident der USA wird? Dass die Briten aus der EU aussteigen? Und dass die Deutschen aus der Atom- und Kohleenergie aussteigen? Dass wir die DNA fast beliebig verändern können? Dass wir schlagartig Millionen Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen? Dass eine schwedische Schülerin eine weltweite Klimaschutzbewegung auslöst?  Ein winziges Ereignis kann unsere Zukunft fundamental ändern. Wilhelm von Humboldt gab uns einen guten Rat: Man muss die Zukunft abwarten und die Gegenwart genießen oder ertragen.

  • Bis uns die Zukunft überrascht, habe ich einen Vorschlag für eine gemeinsame Strategie: wir sollen an das Gute im Menschen zu glauben, aber müssen uns auf das Schlechte einstellen. Somit ergänzen wir uns beide perfekt. Und um die Gegenwart besser zu ertragen, können wir auf eine Institution zurückgreifen, die sich in den letzten zehn Jahren nicht verändert hat, weil sie seit Jahrhunderten schon perfekt ist. Der alte Otto von Bismarck hat schon vor 150 Jahren festgestellt, ohne uns vorher zu kennen: Es ist ein Grundbedürfnis der Deutschen, beim Biere schlecht über die Regierung zu reden.

Gute Idee Ingo. Hoffen wir, dass wir in den nächsten zehn Jahren auch noch hier sitzen können, wo die Zeit stehengeblieben ist. Herr Wirt, liefern Sie bitte zwei Bier in unsere Zeitblase.

Die Zukunft hat viele Namen:
Für Schwache ist sie das Unerreichbare,
für die Furchtsamen das Unbekannte,
für die Mutigen die Chance.
(Victor Hugo, 1802-1885, französischer Schriftsteller)

 

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