Nieten in Nadelstreifen und die verzockte Zukunft

01.05.2019 09:00 von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
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Die verzockte Zukunft - wie wir das Potenzial der jungen Generation verspielen. So lautet der Titel eines neuen Buches des Mannheimer Hochschulprofessors Gerald Lembke, in dem er gnadenlos mit der Bildungspolitik abrechnet. Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. Denn die Einschläge zum drohenden Abstieg Deutschlands ins Mittelmaß kommen immer näher. Und nicht nur bei uns. Der Mueller-Bericht konnte Donald Trump in seiner weltweiten Kahlschlagpolitik nicht stoppen, in den europäischen Regierungen machen sich immer mehr inkompetente Populisten breit und die anstehenden EU-Wahlen werden noch mehr Euroskeptiker ins EU-Parlament spülen. Der Brexit entwickelt sich zum Schrecken ohne Ende.
Auf staatliche Kontrollgremien und Aufsichtsstellen kann man sich immer weniger verlassen, wie die aktuellen Skandale von VW, Daimler und Boeing gezeigt haben. In Brasilien müssen sämtliche TÜV-zertifizierte Staudämme neu geprüft werden. Und dazu werden in Berlin jetzt die letzten 2500 Litfaßsäulen abgerissen, denen Erich Kästner mit seinem „Emil und die Detektive“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Kein Wunder, dass sich die Stimmung bei Ingo und Jupp langsam verdüstert und sie den alten Zeiten nachhängen.

Ingo, ich habe eine gute Nachricht. Wir alten Knacker werden immer noch gebraucht. Vor ein paar Tagen erhielt ich einen Hilferuf von meinem alten Haus. Sie haben einen neuen Technischen Leiter eingestellt. Einen Computerfreak, der gerade seinen Bachelor an einer Privat-Uni gemacht hat. Super Auftreten, muss man schon sagen. Seine Präsentationen sind vom Feinsten. Mit 3D-Simulationen unserer Klinik, alles digital. Er will bei uns in nur einem Jahr das Krankenhaus 4.0 aufbauen.

  • Jupp, das hört sich aber nach einer wahren Herkulesaufgabe an: zwanzig Jahre Versäumnis in einem Jahr aufholen. Werden dort jetzt überall Roboter eingestellt? Und alle Mitarbeiter und Patienten erhalten einen RFID-Chip eingepflanzt?

Ja, so schlimm ist es natürlich noch nicht. Aber der geht brutal systematisch vor, Ingo. In der ersten Phase hat er ein unerbittliches Controlling mit betriebswirtschaftlichen Key Performance Indicators eingeführt. Alles wird jetzt digital erfasst und permanent controlled.  

  • Aber sag mal, Jupp, verstehe ich das richtig. In deinem alten Kasten vom letzten Jahrhundert soll jetzt auf einmal alles digital ablaufen? Wäre es da nicht einfacher gewesen, auf der grünen Wiese ein komplett neues Klinikum aufzubauen, so wie es die Dänen vorgemacht haben?

Nein, Ingo, das wollen sie nicht. Er baut auf Projekt-Teams. Alles frische junge Leute, Computernerds. Die sprechen mehr englisch als deutsch: Big Data, Machine Learning, Clinical Decision Support Systems, Blockchain - alles so in diesem Jargon. Die Ärzte werden demnächst fachlich durch KI-Doktoren unterstützt. Es droht die maximale Effizienz durch komplette Bettenauslastung. Und natürlich benötigt man dafür eine stramme Patientenselektion - du weißt schon, die Guten zu uns, die Teuren zu anderen Häusern.

  • Das ist der neue Hype der Zukunft – das Krankenhaus 4.0 als industrielle Gesundheitsfabrik. Da werden etliche Patienten aber flüchten. Ich sollte meine Aktien jetzt wohl mehr im Bereich der Alternativmedizin anlegen. Für mich sieht so aus, als würde der Stuhl vom Verwaltungsdirektor bald heftig wackeln, oder? Der kann dem Trend der digitalen Kontrolle doch gar nicht mehr folgen.

Das ist vielleicht ganz gut so, Ingo, der Widerstand wächst heimlich. Hinter den Kulissen wird der Verwaltungsleiter vom Ärztlichen Direktor und der Pflegedienstleistung unterstützt. Die sind nämlich schon alle sauer. Selbst der Medizintechnik-Leiter ist entsetzt, seitdem man sein Servicezentrum einer brutalen Kostenkontrolle unterzogen hat.

  • Aus den alten Zeiten weiß ich noch, dass eine meiner Hauptaufgaben in der Medizintechnik darin bestand, den Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern die richtige Bedienung der Medizingeräte beizubringen. Und den Einkäufern habe ich erstmal die Folgekosten ihrer Beschaffung darlegen müssen. Alles Leistungen meiner Abteilung, deren Wert sich kaufmännisch nicht direkt erfassen ließen.

Diese Zeiten sind schon lange vorbei, Ingo. Seine Mannschaft wurde auf ein Fünftel reduziert Die Beschaffung erledigt nun eine Einkaufsgenossenschaft, die eher Maximierung als Optimierung im Visier hat. Die Einweisungen machen nun die Kundendienste neben der technischen Instandhaltung und die Anwender werden mittels Virtual Reality geschult. Den Horror verbreiten zurzeit die IT-Leute, die ihre Installationen ohne Rücksicht auf EMV und MPG ungeniert in den Op-Sälen und Intensivstationen reinknallen.

  • Lass mich mal raten, Jupp. Die Op-Schwestern und Ärzte stehen jetzt ganz verschüchtert in der Ecke und warten schon ängstlich auf die DaVinci-Op-Roboter. Der Frust wächst, weil sich fremde Eindringlinge plötzlich in ihrem ureigensten Revier breit machen und ihnen erzählen wollen, wo es in Zukunft lang geht.

So ungefähr, Ingo. Viel Sozialkompetenz und Empathie kannst du bei diesen arroganten Nerds nicht erwarten. Das Budget der IT ist mittlerweile zwanzigmal so hoch wie das der MT. Die Medizingeräte werden jetzt alle smart. Nur die Patienten stören noch, sie reagieren dummerweise weiterhin stur analog. Es ist jetzt die neue Generation am Zug – die digital Natives.

  • Gerald Lemke schreibt in seinem Buch zur verzockten Zukunft: „Die Eignung junger Leute für die Herausforderungen des digitalen Wandels wird unter anderem gefährdet durch die exzessive Nutzung digitaler Medien.“ Er sieht die heutige Jugend instrumentalisiert für wirtschaftliche Interessen als Spielball der Bildungspolitik und ihrer Reformen.
    Nun ja, die Digitalisierung im Gesundheitswesen soll laut McKinsey 34 Milliarden Euro pro Jahr einsparen.  Jupp, du weißt doch selbst, wo in den großen Häusern noch gewaltig Geld verschwendet wird.  Durch Einsparungen sollten aber doch erstmal die größten Leistungsbringer, nämlich das Pflegepersonal, arbeitsmäßig entlastet werden.

Entlastung - das ist auch sein Reden. Daher hat er im ganzen Haus Alarmserver mit einer Zentrale installiert und an die Rufanlagen gekoppelt. Die Schwestern laufen jetzt alle mit eine Art Smartphone herum. Sie empfanden das zunächst als Erleichterung. Bis dann die Controller die neue Performance berechnet und größere Zeitressourcen im Pflegedienst entdeckt haben. Dadurch konnte er den Personalaufwand für die Nachtdienste halbieren. Betreuungsintensive ältere Patienten sollen jetzt einen Kuschelroboter bekommen, der sie etwas bespaßt und kontrolliert, damit sie nicht so viel meckern, wenn die Schwester nicht mehr so häufig zu ihnen kommt.

  • Muss der Radiologe nicht auch langsam um seinen Arbeitsplatz fürchten, schließlich befundet die Artificial Intelligence die Bilddaten schon besser als erfahrene Ärzte. Und durch die Telemedizin könnte er von zu Hause aus mehrere Kliniken gleichzeitig betreuen.

Personell tut sich da schon einiges. Der Abteilungschef hat schon geistig gekündigt, nachdem der Technikleiter sein Vorzimmer aufgelöst hat. Die einzelnen Sekretariate der Chefärzte sind jetzt zusammengelegt worden und seitdem herrscht Chaos. Schließlich waren die Vorzimmerdamen die eigentlichen Regenten der Abteilungen.

  • Jupp, das kennen wir doch von früher. Die Rationalisierer kürzten schon damals so lange die Kosten, bis du kein Geld mehr für Briefmarken ausgeben konntest, um die Rechnungen abzuschicken. Der Wirtschaftsjournalist Günter Ogger, seines Zeichens mal Redakteur bei Capital, hat schon vor 27 Jahren ein vielbeachtetes Buch über die „Nieten in Nadelstreifen“ geschrieben. Gelernt haben „Deutschlands Manager im Zwielicht“ seitdem nichts, wenn man mal die Schlagzeilen um Daimler, VW, Lufthansa, Airbus, Boeing und ungezählte weitere Großkonzerne verfolgt. Von den Bankern und Politikern will ich gar nicht erst anfangen.
    Gerald Lemke weist auf die gefährliche Selbstüberschätzung hin: „Solche Menschen nehmen ihr eigenes Können zu positiv wahr. Sie sind Opfer des Dunning-Kruger-Effekts, wonach profundes Halbwissen und Unkenntnis oft mehr Selbstsicherheit verleihen als das wahre Wissen eines Experten. Inkompetente Menschen überschätzen also regelmäßig ihr eigenes Können, sind nicht in der Lage, das Ausmaß ihrer eigenen Inkompetenz zu erkennen, sehen deshalb keinen Grund, sich zu verbessern, und schützen sich, indem sie die überlegenen Fähigkeiten der anderen systematisch unterschätzen.“ 

Diese Dummheit kompensieren sie dann durch hektische Aktionen. Schau nur in die Nachrichten, Ingo. Jetzt starten sie wieder die x-te Kampagne zur EU-Reform, zum Klimaschutz und zur Digitalisierung. Wir wollten auf diesen Gebieten immer Weltmarktführer werden. Leider finden wir uns seit Jahren auf den hinteren Rängen wieder.
Unsere Bundesministerin für Bildung und Forschung Anja Karliczek er­füllt drei Quo­ten: Sie ist Frau, ka­tho­lisch und kommt aus Nord­rhein-West­fa­len, schreibt ein SPIEGEL-Redakteur wenig galant. Ansonsten arbeitet sie sich seit einem Jahr in ihr neues Aufgabengebiet erst ein. Ihren zukunftsentscheidenden Etat für 2020 hat sie gerade widerspruchslos um eine halbe Milliarde Euro kürzen lassen. „Wir brauchen nicht an jeder Milchkanne 5G Internet.“

  • Ach Jupp, es ist ja nicht nur das Mittelmaß in den Führungspositionen der Betriebe und Institutionen, welches unsere Zukunft gefährdet. „In Deutschland sind die Eliten nur noch mit sich selbst beschäftigt. Die großen Herausforderungen in der Politik bleiben derweil liegen“ findet Frank A. Meyer im aktuellen Cicero. Das Problem mit dem „Vollgas im Leerlauf“ fängt laut Lemke bereits viel früher an: schon im Kindergarten legen die Helikopter-Eltern die Grundlagen für eine falsche Persönlichkeitsentwicklung. In der Schule setzt sich der krankmachende Leistungsstress fort und endet mit lebensunfähigen Einser-Abiturienten, die nun in den völlig überforderten Hochschulen landen und nach erfolgreichem Abschluss als praktisch unbrauchbare Bachelor einen stressfreien, aber trotzdem gut bezahlten Job in der freien Wirtschaft suchen.

Ach Ingo, das ist alles ein Trauerspiel geworden. Lass uns das leidige Thema beenden. Da ist es ja eigentlich sehr vorteilhaft, dass so Leute wie unser Wirt keinen Bachelor-Abschluss benötigen, oder? Darauf sollten wir mit einem gepflegten Bier anstoßen.

Herr Wirt, bitte zwei Bier für deine in Ehren ergrauten Gäste.

 

„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen., legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“
(Sokrates, griechischer Philosoph, 469 – 399 vor Christus) 

„Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter.“
(Gerald Lemke, Zitat aus seinem Buch „Verzockte Zukunft“ von 2019)

„Verglichen mit den Zuständen in der Politik oder in der öffentlichen Verwaltung, ist die deutsche Privatwirtschaft zweifellos in recht guter Verfassung. Ob das aber ein Verdienst der Manager ist, darf bezweifelt werden. Denn gerade da, wo die angestellten Bosse das Sagen haben, zeigen sich seit Jahren erschreckende Schwächen: in der Großindustrie und in der Finanzwirtschaft“
(Günter Ogger, Zitat aus seinem Buch „Nieten in Nadelstreifen“ von 1992)

 

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