Statistik, die Wahrheit und die Zukunft

01.10.2013 09:00 von Ingo Nöhr

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„Der Ball ist jetzt im Spielfeld!“ Jeder interviewte Politiker befand sich in der Wahlnacht wohl auf einem Fußballplatz, so oft wurde dieser Satz zitiert. „Nun ja, in den Tagen danach entpuppten sich die Bälle als Köpfe, die nun dahinrollen.“ Bei unserem traditionellen Bier in Jupps Eckkneipe analysieren wir mit gemischten Gefühlen den Ausgang der Bundestagswahl.

„Hast du das mitbekommen, wie der Seehofer bei der Bayernwahl verkündet hat, dass jeder zweite Bayer die CSU gewählt hat? Das ist doch abenteuerlich bei einer solch miesen Wahlbeteiligung von 64%. Gerade mal 30,5% der Wählerstimmen hat er bekommen. Die größte Partei in Bayern stellt mit 36%  immer noch die Gruppe der Nichtwähler da. Letztendlich ist Seehofer von fast 70% der wahl­berech­tigten Bayern nicht gewählt worden.“

„Richtig, Jupp. Ich bin ja ein Verfechter von einer Wahlreform, bei der man die 598 Plätze des Bundestages zu 100% auf die Anzahl der Wahlberechtigten umlegt. Die CDU erhielte dann für ihre 24,4% Stimmen gemäß der Wahlbeteiligung von 71,5% nur 146 Sitze, die SPD 110, die Grünen und die Linken jeweils 36 und die CSU hätte mit 5,3% gerade die Fünfprozentklausel übersprungen und dadurch Anspruch auf 31 Sitze. Die übrigbleibenden 170 Sitze wären dann der stärksten Partei (28,5%), den Wahlver­wei­gerern zuzuordnen und blieben als ständige Erinnerung an die politikenttäuschten Deutschen frei. Da würde man eine gewaltige Menge Geld an Abgeordneten­diäten einsparen können. Jetzt müssen wir wegen der Überhangmandate über 200 Abgeordnete mehr durchfüttern.“

Nachdenklich lehren wir mit einem tiefen Zug unsere Gläser.  Ein halbvolles Parlament vorzustellen, fällt uns nicht schwer. Aber die gleiche Rumwurstelei in der Gesundheitspolitik weitere vier Jahre ertragen zu müssen, das nagt an Jupp‘s Stimmung. „Nun ist die FDP ja weg vom Fenster. Aber was kommt danach? Der gleiche Mist, jeder Neue steckt wieder gleich im Griff der Gesundheitslobby.“

„Warte mal ab, irgendwann müssen sie wegen der Kostenexplosion das Gesundheitssystem grund­legend neu ordnen.“ – „Was heißt Kostenexplosion? Wir haben keine Kostenexplosion! Das ist ein Mythos. Man muß die Gesundheitskosten gerechterweise auf das Bruttoinlandsprodukt beziehen, dann sieht man, dass die Ausgaben seit 1992 kontinuierlich zwischen 9% und 11% ausmachen, trotz rasanter Fortschritte in der Medizin und Überalterung der deutschen Bevölkerung. Die Kostenschere bei den Krankenkassen wird nicht durch die Ausgabenseite bestimmt, sondern liegt in den relativ sinkenden Einnahmen durch die Arbeitslosen und den niedrigen Löhnen begründet. Die Kostenexplosion wird uns von interessierter Seite nur durch statistische Tricks vorgegaukelt.“

„Ja, ja, die Statistik. Sie liefert mir aber ein gutes Argument im Streit mit meiner Frau, wenn ich mal auf der Autobahn schneller fahren will. Weißt du, dass im Jahre 2008 nur 28 schwere Verkehrsunfälle bei Fahrten über 200 km/h registriert wurden, aber Hundertausende bei Tempo 50 und darunter? Also siehst du, Jupp: die schnellen Fahrer sind die besten.“

„Na, klar. Ab 280 passiert dann nur noch alle paar Jahre ein Unfall.“ – „Leider schafft mein Auto gerade mal die Hälfte“ seufze ich und ergötze mich dann aber an der Vorstellung, wieviel Liter teures Superbenzin pro Minute bei dem Raser durch die Vergaser rauschen. Ich weiß aber auch ein Beispiel verquerer Statistik: „Welches ist deiner Meinung nach die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate der Welt, und dies schon seit vielen Jahren?“ – „ Was weiß ich! Mexiko, Kabul, irgendeine kolumbianische Drogenstadt?“ – „Du kommst nicht drauf: die Vatikanstadt.“ – „Was? Das kann nicht sein, Ingo. Da leben doch kaum Leute!“ - „Stimmt. Genaugenommen 836 Einwohner nach der letzten Zählung! Aber es kommen 18 Millionen Touristen pro Jahr zu Besuch. Mit der entsprechenden Anzahl von Taschendieben und Räubern im Schlepptau. Die Anzahl der Straftaten in der Vatikanstadt umgelegt auf die Einwohner ergibt statistisch gesehen eben eine astronomisch hohe Kriminalitätsrate.“

„Ich denke bei Statistik an den Jäger, der bei einem Hasen das erste Mal knapp links daneben schoss, und beim zweiten Mal knapp rechts vorbei. Im statistischen Durchschnitt gäbe es dann einen toten Hasen. Aber eins muss man schon sagen: Die Statistiker haben mit ihren Hochrechnungen bei der Wahl extrem gut gelegen. Nach Umfragen vier Tage vor der Wahl trotz 30% unentschlossener Wähler maximal 2,5 Prozentpunkte Abweichung in den Prognosen. Und dann am Wahlabend: die erste Hochrechnung schon 15 Minuten nach Schließung der Wahllokale: ganze 0,3 Prozentpunkte Differenz zum offiziellen Endergebnis. Wie machen die das nur?“

„Wenn bei den Umfragen vor der Wahl nur 1000 bis 2000 Leute befragt werden, dann repräsentiert ein Befragter 40.000 bis 80.000 Deutsche, das ist ein großes Stadion voll. Am Wahlabend werden aber Hunderttausend Leute vor dem Wahllokal nach ihrem Kreuzchen befragt, da kannst du eigentlich nicht mehr viel danebenliegen. Statistik ist ein obskures Verfahren, welches es gestattet, geschätzte Größen oder ungenaue Daten mit der Genauigkeit von Hundertstelprozent auszudrücken.“

„Schau dir nur die Prognosen für unsere Bevölkerungsentwicklung an. Für das Jahr 2050 rechnet man mit 67 bis 81 Millionen Deutschen, je nach den grundlegenden Annahmen und dem Ziel der Vorhersage. Der Politiker kann sich dann die passende Zahl für seine jeweilige Argumentation der Renten-, Zuwanderungs-, Gesundheits- oder Bildungspolitik heraussuchen und hinausposaunen. Statistik ist für Politiker häufig das, was für Betrunkene die Laterne ist. Sie dient nicht zur Erleuch­tung, aber er klammert sich daran fest. Hat mal ein schlauer Mensch festgestellt.“

„Jetzt stelle dir mal vor, Jupp, du hättest im Jahre 1950 eine Prognose für das Deutschland des Jahres 2000 erstellt. Du hättest das Wirtschaftswunder, die Gastarbeiter, den Siegeszug des Autos und später des Computers, das Internet, das Handy, den Zusammenbruch des Ostblocks, die Bildung der Europäischen Union usw. niemals vorhersehen und bei der Kalkulation berücksichtigen können.“

„Ja sicher, das sind Vorhersagen über 50 Jahre, fast zwei Generationen. Aber jetzt haben wir doch schon wesentlich bessere Prognosegrundlagen als damals. Wir lernen auch ständig dazu. Das siehst du an unseren Wetterberichten. Jetzt sagen sie schon für die nächste Woche das Wetter voraus. Dank der enorm gesteigerten Rechenkapazität und der besseren Klimamodelle.“

„Jupp, die nackte Computerpower hilft aber nicht immer weiter. Schau mal nur die letzten 13 Jahre. Nach der Jahrtausendwende kamen die gewaltigen Trendbrüche mit  9/11, den Kriegen gegen den Terrorismus, den Neue Märkte- ,Immobilien-, Banken-, Staaten- und Euro-Krisen hinzu. Ipads, Iphones, Google, Wikipedia, Facebook und Twitter haben die Welt mehr verändert, als sich selbst die meisten Science-Fiction Autoren vorstellen konnten. Was werden in den nächsten Jahrzehnten die Gen-, Bio-, Nano-, Cyber- und Quantentechnologien alles an Umwälzungen bringen, die jegliche Prognosebasis zerstören?“

„Ingo, das liegt doch auf der Hand. Im Jahre 2050 werden wir durch die Gen-Analysen schon im Mutterleib die drohenden Erkrankungen erkennen und durch Stammzellentherapien vermeiden können. Biologische Waffen werden unsere Krebszellen direkt bei der Entstehung vernichten. Nanoroboter werden unsere Gefäße von Ablagerungen freiputzen. Cyber-Produkte werden als künstliche Organe und Gliedmaßen unsere Verletzungen und Behinderungen beseitigen. Womöglich laufen unsere Enkel dann schon mit zusätzlichen Quantencomputern im Gehirn herum und brauchen garnicht mehr in die Schule zu gehen. Unser ehrwürdiges Krankenhaus wird sich dann endgültig zu einer hochkomplexen Reparatur- und Tuningwerkstatt für den makelbehafteten Menschen wandeln.“

„Na, dann ab zur nächsten Inspektion. Auf die nächsten 50 Jahre, Jupp.“ – „Und auf die vielen Überraschungen, die uns noch erwarten, Ingo.“

Mit diesem Trinkspruch beenden wir unsere visionäre Sitzung und winken die nette Kellnerin zur Rechnungsstellung herbei. Ihre Branche wird sicherlich die nächsten fünfzig Jahre gut überleben. Schließlich hat man in Ägypten gerade eine 4500 Jahre alte Brauerei ausgegraben. Die sumerische Göttin der Braukunst, Ninkasi („die Dame, die den Mund füllt“), wird weiterhin die schützende Hand über den Kneipenwirt und sein Handwerk halten.

Aber vielleicht müssen aus Kostengründen die Kellnerinnen schon bald durch Roboter ersetzt werden. Eine entsetzliche Vorstellung. Fast so schlimm wie die Pflegeroboter bei den einsamen Alten in Japan.

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