Über die Tischkante geschaut ...

01.05.2015 09:00 von Ingo Nöhr

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Nachdem allerorten heftig "über den Tellerrand" gelugt wird, unternehmen unsere beiden Krankenhausexperten Ingo Nöhr und Jupp den Versuch, mal etwas weiter bis über die Tischkante zu gucken. Jupp hat in letzter Zeit erstaunt die technologischen und politischen Umwälzungen verfolgt und so machen sich beide beim traditionellen Bierabend in der Eckkneipe ihre  Gedanken über die möglichen Konsequenzen.

Ingo, hast du das gelesen? Dieser Uber will jetzt Deutschland bei der EU verklagen, weil die deutschen Gerichte seine privaten Taxis verhindern.

  • Jupp, fast richtig. UBER ist eine amerikanische Firma, mittlerweile 41 Milliarden Dollar wert, das ist in etwa die Größenordnung der Deutschen Bank.  Der Besitzer, Taxischreck Travis Kalanick, hatte die Idee dazu, als er 2008 in Paris erfolglos ein Taxi suchte, um zu einem Kongress zu fahren. Jetzt ist er in über 50 Ländern vertreten und monatlich fangen 50.000 neue Fahrer bei ihm an.

Ja, Ingo, das mag ja sein, aber nicht in Deutschland. Da verstößt er nämlich gegen eine Menge gesetzlicher Regelungen: keine geeichte Taxameter, keinen Funk, keine Zusatzversicherung, keinen Personenbeförderungsschein, usw. Er ist schon überall verboten in Deutschland.

  • Aber Jupp, das ist nur nach deutschem Recht. Trotzdem will UBER in Frankfurt und München weitermachen. In Großbritannien, Italien, Portugal und Polen ist er bereits als Fahrdienstvermittler zugelassen. Jetzt hat er bei der EU-Kommission eine Beschwerde gegen die Länder Deutschland, Frankreich und Spanien wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrecht und Ungleichbehandlung eingelegt. Und er könnte damit sogar Erfolg haben. Denn nun wird die ihm wohlgesonnene EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc den deutschen Taxi- und Mietwagenmarkt penibel unter die Lupe nehmen. Sie will nämlich eine europaweite Liberalisierung des Marktes umsetzen. Und das könnte böse für die deutschen Taxifahrer enden.

Also Ingo, was ist denn da unser deutsches Recht noch wert? Nimm mal Airbnb, als weltgrößter Zimmervermittler auch seine 20 Milliarden Dollar schwer. Jetzt ist Airbnb sogar in Kuba als 192. Land aktiv und macht weltweit den Hoteliers das Geschäft kaputt. In Berlin kaufen Investoren immer mehr Wohnungen auf, um sie über Airbnb mit hohen Gewinnen an Touristen zu vermieten. Ist allerdings verboten. Und jetzt kommen immer mehr Schattenbanken, neudeutsch Peer-to-peer-lending, wo Privatleute direkt Kredite an Private vergeben. Da werden die Banken und Sparkassen langsam arbeitslos. Ist auch verboten. Die deutsche Politik macht sich immer mehr lächerlich, wenn sie vom "systemrelevanten" Business einfach ignoriert wird.

  • Merkst du was, Jupp? Das sind alles amerikanische Firmen, die sich um nationale Gesetzgebung nicht mehr kümmern, sondern einfach mit unglaublich viel Geld weltweit höchst erfolgreiche Dienstleistungen umsetzen. Verboten bei euch? Nicht mehr lange! Die Macht des Faktischen wird die Barrieren hinwegfegen. Bis die Politiker mit neuen Gesetzen reagieren, ist das System bereits im Land und bei den Menschen tief verwurzelt.

Ich verstehe das nicht, Ingo. Wir haben doch Gesetze, Gerichte, Aufsichtsbehörden, und es werden ständig Bußgelder in Milliardenhöhe verhängt: Microsoft zahlte eine halbe Milliarde Euro, jetzt soll Google sogar sechs Milliarden zahlen - wegen Missbrauch der Marktmacht.

  • Alles Peanuts, Jupp. Google hat 130 Milliarden Dollar an Finanzressourcen, Microsoft 173 Milliarden. Schau nur mal WhatsApp. Bald eine Milliarde Benutzer, die für diesen Dienst freiwillig alles an Nachteilen akzeptieren. Gerade hat man die Firma erwischt, wie sie bei der ersten Version des neuen Telefondienstes heimlich die Telefonate der Nutzer in einer Datei speicherte. Die Urheberrechte für alle deine Bilder, Texte, Audios und Videos gehen automatisch auf die WhatsApp Inc. California über. In deren AGBs - trotz Gerichtsurteil immer noch englischsprachig - erlaubst du jegliche kommerzielle Nutzung, natürlich kostenfrei für WhatsApp. Gerichtsstand ist Santa Clara, Kalifornien. Es gilt ausschließlich kalifornisches Recht, welches du mit der ersten Nutzung unbeschadet jeglicher europäischer oder deutscher Regelungen direkt anerkannt hast. Schön auch die Beschränkung der Nutzer auf ein Alter von mindestens 16 Jahren. Fast alle Schulklassen kommunizieren intern per WhatsApp, selbst schon in der Grundschule. Mittlerweile gehört das Smartphone ja schon zur obligatorischen Geschenkausstattung der Erstkommunion.

Also Ingo, du hast recht. Überall Amerikaner: Amazon, Apple, Ebay, Facebook, Flickr, iTunes, Twitter, Paypal, Skype, Wikipedia, Youtube. Wir sind nur noch eine lokale Filiale der  Multikonzerne, deren Rechte sich dem amerikanischen Verständnis von Business unterordnen zu haben. Deswegen sind sie auch so scharf auf das TTIP-Abkommen. Andererseits sind es zugegebenermaßen auch revolutionäre Produkte, die unseren etablierten Dienstleistungs-Dinosauriern einen ordentlichen Innovationstritt verpasst haben. Kein Wunder, dass sie in kurzer Zeit Millionen und Milliarden neuer Kunden bekommen und in Geld schwimmen.

  • Ja Jupp, da kommt in Zukunft noch viel mehr auf uns zu: die "disruptive innovations". Disrupter sind Umstürzler vorwiegend aus der technologischen Elite des Silicon Valley, welche die Politik verabscheuen und Regulierungen für einen Anachronismus des letzten Jahrhunderts halten. Alles, was der schönen neuen Welt im Wege steht wie Privatsphäre, Urheberrechte und Datenschutz, soll weg. Sie akzeptieren einfach keine Vorschriften und haben Geld genug, um sich das leisten zu können.

Und wie stellt sich diese halbstarke Smartphone-Generation die neue Welt vor, Ingo? Wir im total regulierten Gesundheitswesen müssen da wohl auch langsam umdenken. Dein Disrupter wird bei Grippe sicherlich nicht stundenlang in einer Arztpraxis warten wollen, bis er nach einem Fünf-Minuten-Gespräch ein simples Rezept erhält. Er wird seine Apps anschmeißen, im Internet Diagnose und Therapie recherchieren, seine Behandlung öffentlich ausschreiben, den schnellsten Internet-Doc wählen, sich ein elektronisches Rezept ausstellen und das passende Medikament per Drohne von der günstigsten Apotheke liefern lassen.

  • Jupp, genau das habe ich im Urlaub auch schon gemacht. Ein Foto von meinem entzündeten Insektenstich an einen Tropenarzt gemailt. Therapievorschlag kam eine Stunde später. Zurück zu meinem Disrupter: bei komplexeren Erkrankungen zeichnen die Sensoren in der Unterwäsche Temperatur, Puls, Atmung, Schweißzusammensetzung permanent auf und melden diese zusammen mit wichtigen Laborwerten aus dem Lab-on-a-chip per Telemedizin an eine medizinische Zentrale, die im Notfall auch den Rettungsdienst alarmiert. Was bei den einsamen Senioren schon funktioniert, passt doch genauso für junge Sportler oder Discotänzer. Es gibt jetzt schon über 100.000 Gesundheits-Apps und monatlich kommen eintausend neue, oft ohne Qualitätskontrolle hinzu. Die schönen Zeiten des ärztlichen Halbgottes mit seinem Herrschaftswissen sind endgültig vorbei.

Dem steht ja heute noch das Abrechnungssystem der GOÄ entgegen. Aber Ingo, du könntest Recht haben. Wenn sich diese totale Vernetzung so schnell durchsetzt, dann entscheiden sich unsere jungen Patienten eher für die Internetmedizin und bezahlen per Bitcoins. Die Ärzte machen auf diesem Wege bequem mehr Umsatz, ungedeckelt und ohne Abrechnungs­bürokratie. Einfach bezahlbar über eine Flatrate oder eine Behandlungspauschale, sofort kassiert per Paypal. Wenn da anfangs nur ein paar Hundert Ärzte mitmachen und es sich für die verlockend rechnet, wird eine Lawine losgehen, die unser verkrustetes Monstrum im Gesundheitswesen hinweg­fegen wird. Erinnerst du dich noch an unsere alte Bundespost, Ingo? Wählscheibentelefon, Briefmarken kleben? Die haben seit der EU-erzwungenen Marktöffnung nur noch Museumswert.

  • Schöne Vision. Lass uns vorher noch schnell ein Bier nach dem alten Reinheitsgebot genießen, bevor dieses auch per Internetrezeptur von einem Zapfroboter zusammengemixt wird.

Herr Wirt, zwei gut gezapfte Bier, bitte. Wir zahlen auch noch mit Bargeld.

Kühner als Unbekanntes zu entdecken, kann es sein, Bekanntes zu bezweifeln.
(Paul Watzlawik)

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