Upps – neu und riskant. Das Dilemma des Fortschritts

01.11.2014 09:00 von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
Vielen Dank MEDI-LEARN.de!

Hallo, Jupp, hast du mal einen Zehn-Euro-Schein dabei?

  • Ja, wieso? Bist du pleite und kannst dein Bier nicht bezahlen?

Nein, ich will dir mal die neueste Innovation zeigen. Hast du eine Ahnung, was für Völkerscharen von Bakterien und Viren auf deinem Schein siedeln? Vielleicht hat sich schon ein Ebola-Virus dort eingenistet. Oder du musst damit rechnen, dass von einem deiner Vorgänger noch ein paar Kokainpartikel übrig geblieben sind. Könnte Probleme bei einer Drogenkontrolle geben.

  • Glaube ich nicht. Die Kokainschnupfer nehmen dazu immer einen 100- oder 200er Euroschein, zumindest in den Filmen.

Egal. Ob Kokain oder Krankheitserreger, mir kann das nicht mehr passieren. Ich habe mir schon den „Neuen“ besorgt. Den Zehn-Euro-Schein mit lackierter Oberflächenversiegelung. Wie Teflon. Schmutzabweisend, abwaschbar, hält ewig.

  • Ist ja super, Ingo. Haste mal so einen übrig für mich?

Finger weg. Jupp. Hinter diesen Scheinen ist schon die gesamte kriminelle Halbwelt her. Die sind nämlich fingerprint-protected.

  • Was soll das denn sein? Färben die nicht mehr ab? Oder sind die perfekt gefälscht?

Nein, Jupp, das ist ein offizielles Zahlungsmittel. Die werden jetzt alle so beschichtet. Der Staat tut was für die Volksgesundheit. Nur hat er sich leider dadurch ein neues Problem für die Volkssicherheit aufgehalst.

  • Also, was redest du da, Ingo? Wie kommst du jetzt auf die Kriminellen zu sprechen? Weil man die Kokainschnupfer jetzt nicht mehr entdecken kann?

Viel schlimmer, Jupp. Die Polizei kann auf diesen Scheinen überhaupt keine Fingerabdrücke mehr abnehmen. Die haften einfach nicht darauf. Eben wie Teflon. Porentief rein. Fingerprint-protected.

Jupp betatscht gerade meinen Schein von allen Seiten und versucht tatsächlich, im Gegenlicht seine Fingerabdrücke zu erkennen. Der Wirt schaut schon misstrauisch herüber, als ob wir mit Falschgeld handeln würden.

Die Bundesdruckerei hat nämlich bei aller Geheimhaltung vergessen, mal bei der Polizei nachzufragen, ob sie damit Probleme haben könnte. Jetzt freuen sich alle Drogendealer, Bankräuber, Taschendiebe und Geldwäscher auf die neuen Geldscheine.

  • Super-Innovation! brummte Jupp und wollte meine Banknote gerade in seine Tasche stecken, was ich mit einem schnellen Griff noch so eben verhindern konnte.

Jupp, was lernen wir daraus? Keine Innovation ohne neue Risiken, so scheint es.

  • Ist doch ein alter Hut, Ingo! Die Medizintechnik ist doch voll von diesen Beispielen. Denk mal an die ersten Op-Roboter, an die Hüftendoprothesen, an die Herzschrittmacher, und und und… Technologische Fortschritte, die letztendlich zu großen Rückrufaktionen geführt haben. In der Automobilbranche ist das Alltag – verbessertes Bauteil, funktioniert nicht einwandfrei im Gesamtsystem, weltweiter Rückruf in die Werkstätten. Ganze Heerscharen von Antivirenhersteller leben davon, dass die Softwarehäuser bei ihren Updates und Upgrades versehentlich immer neue Bugs und Türöffnungen für Hacker einbauen. Du darfst keiner Innovation trauen. Die haben alle noch die Kinderkrankheiten.

Okay, Jupp. Aber ich erwarte, dass die Hersteller bei den Risikobewertungen die früheren Reinfälle mit einbeziehen, sozusagen als Komponente eines lernenden Systems in der Produktentwicklung. Und zwar nicht nur ihre eigenen Fehler, sondern die der gesamten Branche. Dafür haben wir doch ein eigenes Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eingerichtet.

  • Du bist ein naiver Träumer, Ingo. Das BfArM ist doch ein zahnloser Tiger. Die guten Leute dort sammeln die Vorfälle, analysieren sie auch und melden sie dann an die zuständigen Landesbehörden. Aber danach ist Funkstille. Was die nun mit dieser Meldung anstellen, ist deren Sache. Das BfArM bekommt keine Rückmeldung von den getroffenen Maßnahmen. Und die Betreiber und Anwender haben das Gefühl, dass ihre Meldungen in einem Schwarzen Loch verschwunden sind.

Ich denke, Jupp, das Grundproblem ist ein anderes. Wir haben zwar ein Dutzend Risikonormen, die allesamt bestimmte Aspekte in einem Produktbereich abdecken, aber die nichttechnischen Defizite im Betreiber- und Anwenderbereich werden generell nicht berücksichtigt. Überall sind Spezialisten am Werk, die nur ihre eigene Welt kennen.

  • Na klar, ich möchte doch auch nicht vom Hausgärtner operiert werden und den Anästhesisten an die Pforte setzen. Ohne Spezialisierungen hätten wir doch heute keinen Fortschritt.

Richtig, aber was ist mit der Kommunikation untereinander? Schau dir mal ein kostengünstiges Alarmmeldesystem in einem Allerweltskrankenhaus an. EKG und Pulsoximeter eines Patientenmonitoringsystems werden auf der Station an die Schwesternrufanlage angeschlossen. Die ist neuerdings mit einem zentralen Alarmierungsserver verbunden. Da sind schon drei Fachleute gefordert, die normalerweise nicht miteinander reden: der Medizintechniker, der Haustechniker und der IT-Experte.

  • Klar, jeder hat sein eigenes Revier und seine Zuständigkeiten. Wo ist das Problem?

Der Geschäftsführer freut sich, da er jetzt durch die moderne Alarmzentrale den Bedarf an Nachtschwestern halbieren kann, weil diese jetzt mehrere Stationen gleichzeitig zu bedienen haben. Die arme Schwester hat nun einen unruhigen Patienten auf einem weit entfernten Zimmer, der sich ständig die EKG-Elektroden oder den Pulssensor abreißt. Ihr Dilemma ist nun: rennt sie bei jedem Alarm zum Patienten hin und schafft dabei ihre übrigen Aufgaben nicht mehr? Oder ignoriert sie nach dem fünften Alarm den Ruf und widmet sich wichtigeren Tätigkeiten? Was passiert bei einem echten Notfall? … In den letzten 20 Monaten waren bereits fünf Todesopfer durch derartige Alarmruflösungen zu beklagen.

  • Gutes Beispiel, Ingo. Ein Krankenhaus ist ein gewaltiges vernetztes System, quasi eine Stadt mit sehr komplexen Zusammenhängen. Ein IT-Manager oder ein Verwaltungsleiter kann dieses Gebilde heutzutage überhaupt nicht mehr alleine durchschauen. Er muss bei seinen Entscheidungen alle Betroffenen mit einbinden. Eine Änderung in diesem Netzwerk kann an ganz anderer Stelle eine überraschende Reaktion auslösen. Interdisziplinäre Kommunikation nennt man die Lösung.

Und wie bringt man diese Leute an einen Tisch – die Mediziner, Verwaltungsleute, Pflegekräfte, Haus-, Betriebs-, Medizin- und IT-Techniker, Jupp? Man packt sie auf der MEDICA in ein Forum und bringt sie dazu, einander zuzuhören. Da treffen beim KKC-Stand fremde Welten aufeinander, kann ich dir sagen. Komm mal in die Halle 15 A05, es lohnt sich. Und einer der KKC-Leute will nervige Fragen an die Hersteller und Dienstleister stellen, was sie sich bei dieser Innovation gedacht haben.

  • Na, das schauen wir uns mal an, Ingo. Vielleicht erhalten wir ja eine Antwort auf das Phänomen „Upps – neu und riskant“.

Herr Wirt, bitte zweimal ein altbewährtes Bier!

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