Wozu brauchen wir eigentlich noch eine Regierung?

01.12.2017 09:00 von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
Vielen Dank MEDI-LEARN.de!

Traditionell treffen sich Ingo Nöhr und Jupp im Dezember zum alljährlichen Rückblick und wagen ein paar vorsichtige Prognosen für das kommende Jahr. Jeder auf seine Art – Jupp träumt von den guten alten Zeiten, wo noch die Welt in Ordnung war. Optimist Ingo dagegen erwartet eine abrupte Wende zum Besseren, nachdem die klassischen Instrumente des Regierens und der Problembehandlung zuneh­mend versagen. Er glaubt immer noch an das Gute im Menschen. Nostalgisch vertiefen sich die beiden in ihre Aufzeichnungen der letzten Jahre.

  • Ingo: wir sind in diesem Jahr mit der Lösung unserer großen Probleme keinen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil: alles hat sich verschlimmert. Der BER-Flughafen wird vor 2020 nicht fertig, der Stuttgart-21 Bahnhof kostet bis Ende 2024 noch ne Milliarde mehr. In Basel entgleist mal wieder ein ICE. Deutsche Bank, VW, Mercedes, Bosch zahlen milliardenschwere Bußgelder. Klimagipfel, Dieselgipfel, G20-Gipfel, Flüchtlingsgipfel – Staatsversagen allerorten. Die Bürger müssen sich selber helfen. Dies haben Hunderttausende von ehrenamtlichen Helfern bei der ersten Flüchtlingswelle beeindruckend gezeigt. Wie hast du genau vor einem Jahr fest­gestellt: „Das Vertrauen der Bürger in die Eliten der Banken, der Hersteller und der Staats­gewalt wurde durch Gier und Inkompetenz zerstört.“

Folgerichtig Jupp, unsere Probleme lassen sich mit unseren Politikinstrumenten und unserer Geiz-Mentalität in der Gesellschaft nicht mehr lösen. Die geplatzte Jamaika-Koalition hat es doch über­deutlich aufgezeigt. Ich zitiere von Dezember 2016: „die Politik hatte ein wichtiges Prinzip des Managements vergessen: Achte auf die Verlierer deiner Maßnahmen! Sei alarmiert, wenn ihre Wut ein Sprachrohr findet!“ Wo kommen denn die AFD-Wähler her? Je eine Million von der CDU und SPD/Linke; 1,5 Millionen von den Nichtwählern und 730.000 von den Splitter­parteien. Diese Verlierer waren schon lange vorher da, sie versteckten sich nur in den alten Volksparteien oder gingen erst gar nicht zur Wahl. Die sechs Millionen AFD-Wähler repräsentieren nun in einer legal gewählten Partei einen beachtlichen Teil des deutschen Volkes. Unsere Politiker sind schlecht beraten, wenn sie das Phänomen weiterhin ignorieren oder aussitzen wollen.

  • Die ausgerasteten Präsidenten von USA, Nordkorea, Türkei, Ungarn haben sich auch nicht beruhigt. Trump verteilte gerade rechtsradikale Videos an seine 40 Millionen Twitterfolger und kommt vor lauter Twittern nicht zum Denken. Und sein Counterpart Kim Jong-un hat überzeugend demonstriert, dass seine Atombomben jetzt jeden Punkt der Erde erreichen können. Die Gletscher schmelzen in Rekordzeit, 60 Millionen Menschen sind auf der Flucht, die IT-Innovationen werfen unsere schlafende Industrie aus der Bahn. Und wir kriegen keine arbeitsfähige Regierung zustande. Da frage ich mich doch wie die Belgier, die Holländer und die Italiener, wozu eine verkrachte Regierung überhaupt noch nutze ist. Es scheint möglicher­weise auch ohne zu gehen. Jetzt versuchen ja unsere Parteien in diesen quasi regierungslosen Monaten noch schnell etliche Gesetzesvorhaben durch das Parlament zu schleusen, bevor wieder geordnete Zustände mit all ihren demokratischen Zwängen herrschen.

Jupp, hier hast du es schwarz auf weiß. Wir haben schon 2015 festgestellt: „Nicht die Politik ist ohnmächtig. Sie hat ja die Gesetz­gebungs­gewalt und eine funktionierende Exekutive. Sie bekommt durch ihren wissenschaftlichen Apparat frühzeitig alle wichtigen Informationen. Sämtliche Instru­mente zur Durchsetzung des Rechts sind vorhanden, das beweisen doch die politikkorrigie­renden Urteile unserer obersten Gerichte. Es ist die Ohnmacht der Politiker, die nicht mehr in der Lage sind, durch Mut, Besonnenheit und Weitsinn eine gerechte Ordnung zu schaffen. Sie reagieren nur noch panisch mit Alibiaktionen auf eine sich empörende und zunehmend frustrierte Öffentlichkeit.“

  • Dabei haben wir doch überall und flächendeckend Risikobewertungen eingeführt. Die Gesundheitswirtschaft trieft schon regelrecht vom x-fach normierten Risikomanagement. Finanzen, Hygiene, Technik, IT, Medizintechnik, medizinische und pflegerische Leistungen, nichts läuft mehr ohne Risikoanalysen. Aber ist es denn dadurch besser geworden? Ein einzelner Krankenpfleger konnte unbemerkt über hundert Patienten umbringen. Fast 100.000 Menschen werden jedes Jahr nutzlos an der Schulter operiert. Mindestens eine halbe Million Patienten holen sich im Krankenhaus eine Infektion, 15.000 sterben daran pro Jahr. Wir leisten uns ein total verzerrtes Risikodenken. Die Risikomanager müssen sich endlich mehr auf die verborgenen Interessenkonflikte Einzelner und weitere nichttechnische Einfluss­faktoren fokussieren wie frustrierte und überlastete Mitarbeiter im Pflegebereich, inkompetente und fortbildungsunwillige Ärzte, selbstherrliche und beratungsresistente Führungskräfte. Dazu kommt noch die unwirksame Delegation von Verantwortlichkeiten, der Einsatz von unangepassten Technologien, die mangelhafte Kommunikation zwischen den Disziplinen, das dilettantische Krisenmanagement beim Zwischenfall, der falsche Umgang mit der Presse. Und der ständige Druck auf eine rein monetär bezifferbare Wirtschaftlichkeit. Wieviel Profit verträgt denn dann noch die Qualität? Das haben wir uns schon 2014 gefragt! Hat sich da was merklich verbessert, Ingo?

Ich erinnere mich noch an die MEDICA 2013 an die drei Szenarien der Krankenhauszukunft. Dr. McCoy vom Medical Hightec Repair Center mit seinen Nano-Robotern war schon stark. Da hast du dir nur ein Bein gebrochen und schon bist du der gesamten Appa­rate­medizin ausgeliefert: Op-Roboter, Nanotechnik-Einsatz, Gen-Analysen, Organzüchtung. Die Entwicklung geht zudem in Richtung Präventivmedizin durch Anlegen eines Ersatzteillagers. Wenn du weißt, dass du in 7,8 Jahren mit 67%-iger Wahrscheinlichkeit einen Leberkrebs bekommst, kannst du dir schon mal frühzeitig ein neues Organ züchten lassen.

  • Ja richtig Ingo. Dr. Feelgood hat ja in seinem Healing Energy Center einen ganz anderen Ansatz verfolgt: Das gebrochene Bein als ein Warn­signal für einen beschädigten Astralleib. Durch kosmische Strahlen, Quantenphysik, Amulette und ganzheit­liche Behandlung sollen zunächst die Chakren und Meridiane repariert werden, ganz ohne Apparate­medizin. Und wahrscheinlich nähern wir uns allmählich der heruntergekommenen Prekariatsambulanz von Dr. Eisenbarth, der sich mit Minimalmedizin in einem bankrotten Zweig des Gesundheitssystems abmüht.

Und du glaubst es nicht, Ingo. Vor fünf Jahren haben wir schon von den heutigen Innovationen geträumt: „3D-Drucker werden mit Laser-Sinter-Technologie maßge­schneiderte Prothesen, künstliches Herzgewebe, Medikamente, Ersatzzähne und -knochen aus Stahl, Plastik, Titan, Aluminium oder organischem Material herstellen. Nano- und Gentechnologie, Roboter­technik, Telemedizin und Internet werden die heutige Medizin revolutionieren.“ Ich habe den Eindruck, diese Entwicklung hat unsere Industrie größtenteils verschlafen. Schau dir doch nur die deutsche Automobilindustrie an. Jetzt reagieren sie fast hysterisch auf die Herausforderung vom Tesla und bringen elektrische Autos auf dem Markt. Was macht Toyota, die schon seit Jahren auf dem Hybridautomarkt führend vertreten sind? Zur Olympiade 2020 sollen in Tokio die Besucher in über 100 Wasserstoff-Bussen emissionsfrei befördert werden.  Jetzt arbeiten auch Honda und Hyundai weiter an der Brennstoffzellentechnik und sehen darin die wahre Zukunft.

  • Es wird in den nächsten Jahren richtig spannend, Jupp. Ephraim Kishon hat mal gesagt: „Alt ist man dann, wenn man an der Vergangenheit mehr Freude hat als an der Zukunft.“ Was werden die nächsten fünf Jahre bringen? Der Mensch war seit Jahrtausenden nur lineares Wachstum gewöhnt. Jetzt ist er den exponentiell voranschreitenden Entwicklungen hilflos ausgesetzt. Früher konnte man die Haupttrends noch in die nächsten Jahre extrapolieren. Aber heutzutage erleben wir in einem Wahnsinns­tempo vorher undenkbare Überraschungen, die sich in der Politik, den Technologien und dem gesellschaftlichen Umfeld drastisch und rapide auswirken. Ich habe vor kurzem gelesen, dass ein Augsburger Physiker mit wenig Aufwand künstliche Diamanten züchtet: Gerade hat er in nur vier Tagen den größten Diamanten der Welt produziert. Juweliere können künstliche kaum noch von natürlichen Diamanten unterscheiden. Stell dir mal die Konsequenzen vor!

Ingo, das liegt vielleicht daran, dass wir weltweit viel mehr Macher mit fast unbegrenzten finanziellen und technologischen Ressourcen haben. Antoine de Saint-Exupéry sagte mal den schlauen Satz: „Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.“ Wer hätte denn Wikipedia, Google, Twitter, WhatsApp und Youtube voraussehen können? Gerade hat die CIA einen Zukunftsreport zusammen mit dem US-amerikanischen National Intelligence Council (NIC) veröffentlicht, der eigens zum Amtsantritt von Donald Trump zusammengestellt wurde. Er wird ihn trotzdem nicht lesen wollen, weil dort 76-mal das Wort Klimawandel vorkommt: als Ursache für eine Vielzahl kommender Konflikte und als globale Bedrohung.

  • Wirklich ein hochinteressanter Bericht: „Die Welt im Jahr 2035 – gesehen von der CIA“. Der Untertitel dient vielleicht als Warnung, nachdem sich die CIA seit Jahrzehnten ungezählte Fehleinschätzungen geleistet hat. Aber sie hat daraus gelernt und sich gleich zweifach abgesichert. Zunächst schauen ihre Experten nur auf die nächsten fünf Jahre und betrachten die einzelnen Regionen. Und da die Wahrsager nur unscharf aus dem weltweiten Kaffeesatz lesen können, beschreiben sie drei mögliche Szenarien. Im ersten leben die Staaten als „Inseln“, indem sie sich von der Globalisierung protektionistisch abkoppeln. Höre ich da „America First“ heraus? Das zweite, eher konservative Szenario beschreibt die alten und neuen Großmächte als konkurrierende “Orbits“, die außenpolitisch ihre eigenen Reviere erhalten und zu Hause die innenpolitische Situation stabil halten wollen. Sieht ganz nach Europa aus. Interessanter sind die „Communities“. Durch die technologische Entwicklung verlieren die Staaten an Bedeutung. Global agierende Unternehmen, nichtstaatliche Organisationen und sogar einzelne Individuen spielen dann eine größere Rolle bei der Gestaltung der Welt.

Ich glaube, wir sind schon mitten drin im dritten Szenario. Acht Männer besitzen so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. In Deutschland sind es 36 Milliardäre, die mehr besitzen als die ärmeren 50%. Aber sind sie deswegen zu beneiden? „Geld allein macht nicht glücklich – aber es ist besser, in einem Taxi zu weinen als in einer Straßenbahn.“ Diese Erkenntnis kommt von Marcel Reich-Ranicki. Angesichts dieser Trends ist es doch beruhigend, dass wir uns noch das monatliche Stammtischbier leisten können.

  • Guter Hinweis, Jupp. Bevor all unser Geld bei den Reichen landet: „Herr Wirt, bitte schnell zwei Bier, bevor wir ganz verarmen.“

Ich bin ein Bewunderer der göttlichen Weltordnung. Die Welt ist einmalig. Aber was die Menschen machen, ist entweder unglaublich gemein, dumm oder komisch.

Ephraim Kishon, israelischer Satiriker, 1924 -2005

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